Gerade in Zeiten von Corona – welche Medizin wirklich wirkt
Die Ärztin Dr. Natalie Grams im Interview über Homöopathie, Bachblüten und TCM. Fakten statt Halbwahrheiten: welche Medizin wirklich wirkt.
Mit ihrer Kritik an der Homöopathie hat die deutsche Ärztin Natalie Grams einen öffentlichen Diskurs über „sanfte Heilmethoden“ losgetreten. Dabei war sie lange selbst praktizierende Homöopathin. Wir trafen sie zu einem Aufklärungsgespräch über Fakten und medizinische Halbwahrheiten.
Lust aufs LEBEN:
Tee oder Kaffee?
Dr. Grams:
Kaffee. Schwarz mit einer homöopathischen Menge Milch (lacht).
Mit ihrer Kritik an der Homöopathie hat die deutsche Ärztin Natalie Grams einen öffentlichen Diskurs über „sanfte Heilmethoden“ losgetreten. Dabei war sie lange selbst praktizierende Homöopathin. Wir trafen sie zu einem Aufklärungsgespräch über Fakten und medizinische Halbwahrheiten.

Lust aufs LEBEN-Chefredakteurin interviewte Dr. Natalie Grams
Lust aufs LEBEN:
Damit sind wir schon beim Thema. „Globuli sind keine Medizin“, sagen Sie. Was kritisieren Sie an der Homöopathie?
Dr. Grams:
Die Homöopathie sagt: je weniger Wirkstoff in der Arznei vorhanden ist, umso stärker soll sie wirken. Aber ein Wirkstoff, der nicht mehr vorhanden ist, kann auch keine spezifische Wirkung zeigen. Dafür braucht man noch nicht einmal eine wissenschaftliche Erklärung, das sagt einem der Hausverstand.
Lust aufs LEBEN:
Kann die Homöopathie nicht dennoch helfen?
Dr. Grams:
Doch, das kann sie. Obwohl sie nicht wirkt. Das kann man sich mit dem Zuwendungsaspekt oder mit den Placebo-Effekt erklären – vielleicht auch damit, dass man mit der Homöopathie das Gefühl hat, selbst etwas für sich tun zu können.
Lust aufs LEBEN:
Sie würden also Homöopathen nicht generell verurteilen?
Dr. Grams:
Nein. Was ich kritisiere ist die Deklaration als Arzneimittel oder die Zusatzausbildung für Ärzte. Ich würde mir eher eine bessere Zusatzausbildung für Psychosomatik wünschen. Ich verurteile aber niemanden, der die Homöopathie, Schüßler Salze oder Bachblüten für sich anwenden möchte. Das kann jeder selbst auf eigene Kosten und Verantwortung tun. Aber Aufklärung wäre wichtig.
Lust aufs LEBEN:
Inwiefern?
Dr. Grams:
Viele Menschen wissen gar nicht darüber Bescheid, dass es sich bei Homöopathie nicht um Naturheilkunde handelt, sondern tatsächlich um wirkstofffreie Präparate und Mittel. Wenn jemand das weiß, aber dennoch darauf schwört, hab ich damit kein Problem – wenn man zudem die Grenze beachtet, ab wann man zum Arzt gehen sollte, weil man richtige Medizin braucht.
Lust aufs LEBEN:
Wo liegt denn diese Grenze? Ab wann ist es Zeit für Schulmedizin?
Dr. Grams:
Alles was lebensbedrohlich ist – von Lungenentzündung bis zur Krebserkrankung. Aber ich würde auch psychische Beschwerden mit einfließen lassen: eine Depression ist potentiell auch tödlich und sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Auch bei Kindern muss man aufpassen: bei Husten, Schnupfen, Heiserkeit und Bauchweh kann ich zunächst Homöopathie versuchen, aber schon wenn eine eitrige Mittelohrentzündung da ist, sollte man Kinder nicht unnötig mit „sanfter Medizin“ leiden lassen. Das tut so weh!
Lust aufs LEBEN:
Warum sind „sanfte“ Methoden wie die Homöopathie überhaupt so beliebt?
Dr. Grams:
Aus zweierlei Gründen: zum einen fühlen wir uns in der Schulmedizin zu Recht oft nicht als Mensch gesehen und gut behandelt. Deshalb kann ich auch jeden verstehen, der sich auf die Suche nach einer Alternative macht, wo man menschlicher behandelt wird. Da steht dann nicht die Wirksamkeit im Vordergrund, sondern diese sanften Wohlfühlaspekte. Die braucht man ja auch, wenn man krank ist. Das fehlt aber in unserer Medizin. Und zum anderen muss man auch sagen, dass seit Jahrzehnten sehr viel Werbung für diese Methoden gemacht wird – mit überzogenen Heilsversprechen und mit Attributen wie „sanft“, „natürlich“, „nebenwirkungsfrei“, „ganzheitlich“ oder „individuell“ – was alles nicht belegt werden kann, aber wie ein positives Heile-Welt-Konzept rüberkommt. Und ganz ehrlich: wer würde sich danach nicht sehnen?
Lust aufs LEBEN:
Könnte man sich nicht darauf einigen: wer heilt, hat Recht?
Dr. Grams:
Ich würde sagen: wer nachweisen kann, dass er ursächlich für die Heilung verantwortlich ist, hat Recht. Wer einfach nur dabei stand und beobachtet, wie sich der Körper selbst heilt, kann die Heilung nicht für sich beanspruchen. Und hat damit auch nicht Recht. Wir sollten sehr viel häufiger unserem Immunsystem, unserer Regenerationsfähigkeit dankbar sein und das nicht auf Mittelchen und Methoden schieben, die keine spezifische Wirksamkeit haben. Da danken wir an falscher Stelle.
Die Problematik ist natürlich auch: nur weil es MIR geholfen hat, ist ein Verfahren noch lange nicht generell wirksam. Bei mir hätte es auch der Zufall sein können oder die vergangene Zeit oder mein guter Glaube. Das alles mag bei anderen nicht zutreffen – und damit gefährden wir sie.
Lust aufs LEBEN:
Sie werden für Ihre Kritik teilweise heftig angefeindet. Wie gehen Sie damit um?
Dr. Grams:
Ich hätte nie gedacht, dass das solche Wellen schlägt. Das war ja keine geplante Kampagne. Ganz im Gegenteil, ich hatte selbst sehr an die Homöopathie geglaubt und einfach das Gefühl: Mensch, wenn ich als Ärztin das nicht wusste, dann wissen das andere Ärzte wohl auch nicht und wären froh über Aufklärung. Und dann reden wir zusammen darüber, was wir jetzt mit der Homöopathie in der Medizin machen. Weil uns vereint doch der Wunsch, Patienten gut zu behandeln. Und damit bin ich aber total auf die Schnauze gefallen. Es war kein Interesse da, sondern sofort eine Front, die gesagt hat: darüber wollen wir nicht reden, Homöopathie ist keine Placebo-Medizin und auch keine Gesprächstherapie. „Wir“ sind keine komplementäre Behandlungsmethode, „wir“ sind eine Alternativmedizin. Und das hat gleichzeitig zu großer Emotionalität inklusive Hass, Anfeindungen und Bedrohungen geführt. Was dann wiederum bei mir bewirkt hat, dass ich – ich bin ja auch ein wenig rebellisch veranlagt – gesagt habe: „Nee, das lass ich mir jetzt auch nicht gefallen!“ Wir müssen sachlich darüber reden, dass Zuckerkügelchen unsere Gesundheit jetzt nicht entscheidend verbessern können.
Lust aufs LEBEN:
Immerhin haben Sie erreicht, dass nun öffentlich darüber diskutiert wird.
Dr. Grams:
Ja, einerseits freut mich das auch – andererseits bleibt natürlich das Problem, dass der Ton fast unterirdisch ist und der Dialog leider fast nie gelingt.
Wir sollten sehr viel häufiger unserer Regenerationsfähigkeit dankbar sein und das nicht auf Mittelchen und Methoden schieben, die keine spezifische Wirksamkeit haben.
Lust aufs LEBEN:
Trifft Sie das auch persönlich?
Dr. Grams:
Natürlich, weil ich ja mit einigen der Homöopathinnen und Homöopathen befreundet war – und plötzlich richten die sich auch öffentlich gegen mich. Und das, obwohl ich versuche, bei aller Kritik freundlich und empathisch zu bleiben. Ich sage ja nicht, Homöopathie soll verboten werden oder es sei Kindesmisshandlung. Ich versuche nur, darüber aufzuklären. Und dann die Frage zu stellen: wenn du alles darüber weißt, würdest du das noch genau so anwenden?
Lust aufs LEBEN:
Manche Kritik ist schon auch recht provokant verpackt. Wenn man Ihnen etwa auf Twitter folgt, könnte man den Eindruck gewinnen, sie machen sich über Homöopathie lustig. Ist das Absicht?
Dr. Grams:
Man muss natürlich ein wenig unterscheiden zwischen Twitter und dem Rest der Welt. Twitter überspitzt. Manchmal ist das auch ein bisschen mein Ventil: ich versuche immer freundlich und zugewandt zu bleiben und fühle mich dennoch oft so bedroht, dass ich mich ohne Schutz kaum mehr wo hingehen traue. Das ist echt ein arges Gefühl. Vielleicht hilft mir Twitter da, ein wenig Dampf abzulassen.
Lust aufs LEBEN:
Sind Sie auch noch als Ärztin tätig?
Dr. Grams:
Nein. In Deutschland braucht man einen Facharzt, um niedergelassen zu sein – außer man ist Homöopath, da ging es früher privatärztlich. Als ich mit der Homöopathie aufgehört habe, musste ich daher auch die Praxis aufgeben und hätte zurück an die Klinik gemusst, um meinen Facharzt zu beenden – das ging aber familiär, mit damals kleinen Kindern nicht. Im Moment ist es so, dass ich „nur“ das mache.
Lust aufs LEBEN:
Sie sind also zur Zeit hauptberuflich Homöopathie Kritikerin?
Dr. Grams:
Sozusagen (lacht).
Lust aufs LEBEN:
Wie denken Sie über andere komplementärmedizinische Methoden, wie etwa über die TCM (Traditionelle Chinesischen Medizin)?
Dr. Grams:
Zunächst wird da immer suggeriert, dass die Methode sich seit 2.000 Jahren systematisch weiter entwickelt hat. Das stimmt natürlich nicht. Was wir hier im Westen kennen, ist meist etwas ganz anderes als die traditionelle Medizin in China. Es ist ein Exportprodukt. Aber natürlich hat die Kräuterheilkunde Wirkstoffe, die man untersuchen und erforschen kann – dahinter steckt ein großes Potenzial und es gab sogar schon einen Nobelpreis dafür. Auch Tai Chi und Qi Gong sind wunderbar – schon allein, weil Bewegung als Prophylaxe immer gut ist und auch als ergänzende Therapie. Und bei der Akupunktur scheint es zwar so, dass es ziemlich egal ist, wohin man sticht, aber der Akt des Nadelns dürfte manchmal als Schmerztherapie funktionieren. Und das ohne Nebenwirkungen im Vergleich zur schulmedizinischen Schmerztherapie. Mir erschließt sich zwar nicht, warum es „natürlich“ sein soll, Metallnadeln in den Körper zu stechen, aber wenn das hilft: warum nicht? Es hängt nur nicht mit der Krankheitslehre der TCM zusammen, die besagt, es gäbe ein Chi und Wind und Kälte. Dieses philosophische Konstrukt ist aus der Geschichte der TCM heraus verständlich, aber nicht mehr nachvollziehbar vor dem Hintergrund unseres heutigen Wissens.
Lust aufs LEBEN:
Laut TCM können auch negative Emotionen zu Krankheiten führen. Ist das einleuchtend?
Dr. Grams:
Diesen Teilaspekt halte ich für superwichtig. Weil wir gerade in der Body-Mind-Medizin und in der Psychosomatik sehen, wie eng das Zusammenspiel zwischen unseren Gedanken und Gefühlen und unserem Körper ist. Auch die Psychoneuro-Immunologie ist ein Bereich, der immer wichtiger werden wird in der Zukunft. Weil wir ja bereits am Placebo-Effekt gesehen haben, wie sehr wir uns selbst beeinflussen können beim Gesund- oder Krankwerden.
"Ich bin selbst großer Yoga-Fan. Daher hat es mich gefreut, dass man nachweisen kann, dass es wirklich hilft."
Lust aufs LEBEN:
Was halten Sie von Ayurveda?
Dr. Grams:
Da kenne ich mich nicht so gut aus, dazu sage ich nichts. Das kenne ich bislang eher aus dem Wellness-Bereich. Damit hab ich mich noch zu wenig beschäftigt.
Lust aufs LEBEN:
Ein Aspekt von Ayurveda ist Yoga. Wirkt das?
Dr. Grams:
Ich bin selbst großer Yoga-Fan, seit vielen Jahren. Und da hat es mich besonders gefreut, dass man bei Yoga nachweisen kann, dass es wirklich hilft. Natürlich nicht als Behandlung gegen eine Blasenentzündung, aber als Prophylaxe und auch bei depressiven Verstimmungen oder manchmal, um sich trotz einer Erkrankung besser zu fühlen und sich auch schneller zu erholen. Ob nun eine spirituelle Form oder eine eher körperbetonte – da findet jeder etwas, das für ihn passt.
Lust aufs LEBEN:
Wie stehen Sie zur Kinesiologie?
Dr. Grams:
Schwierige Frage. Ich kenne das Prinzip dahinter, etwa wenn es um’s Austesten geht – was tut mir gut und was nicht? Ich denke, es ist ein gutes Beispiel dafür, wie suggestiv die Methode ist. Können wir unserer Intuition trauen? Wie manipulierbar und täuschungsanfällig sind wir oder wollen es sogar sein? Die Grenze zwischen Missbrauch und „Das kann mir helfen“ ist hier nicht gut definiert und auch nicht gut spürbar. Und ich habe auch Therapeuten erlebt, die hier sehr manipulativ vorgehen. Davor würde ich Patienten gerne warnen wollen: Lassen Sie sich nichts einreden, was Ihnen widerstrebt!
Lust aufs LEBEN:
Lassen Sie nur gelten, was mit Zahlen messbar ist?
Dr. Grams:
Es ist immer gut, wenn man Zahlen hat. Dann hat man etwas Reales in der Hand – aber nicht für alle Mittel und Methoden gibt es das. Die Frage, die man sich dann immer noch stellen kann, ist: Ist es plausibel? Ist es rational? Oder ist es eher metaphysisch, esoterisch. Und selbst wenn es das ist, kann man sich immer noch dafür entscheiden. Man muss nur wissen, dass es einer rationalen Grundlage entbehrt. Aber meine Güte, auch der Glaube ist etwas, das zur Gesundheit beitragen kann. Es ist immer nur wichtig zu wissen: wo ist die Grenze? Wenn ich mich etwa als Impfgegner von der Medizin abwende – so weit darf es nicht gehen.
Lust aufs LEBEN:
Kennen Sie den Spruch: „Wer viel misst, misst viel Mist“? Kann es sein, dass wir mittlerweile schon zu viel messen?
Dr. Grams:
Absolut. Da gibt es eine ganz Industrie dahinter, die sagt, jetzt messen wir mal tausend Blutwerte, irgendeiner wird schon falsch sein. Und dann haben wir etwas zu behandeln. Bei aller Kritik der sanften Medizin gegenüber: ich bin kein Fan von Überdiagnostik und Übertherapie. Und wenn wir uns unser Gesundheitssystem im Gesamtspektrum ansehen, ist das natürlich das viel größere Problem. Weil es viel mehr Fehldiagnosen, Fehlbehandlungen damit viel mehr Kosten verursacht. Wenn wir an der Medizin-Basis die Gesprächszeit und Kompetenz verbessern könnten, könnte man vielleicht feststellen: hier würde Yoga viel besser helfen als eine Computertomografie, eine MRT und in der Folge noch eine teure Schmerztherapie, die wir dann auf Grund der Nebenwirkungen weiter behandeln müssen. Das wäre für mich wirklich sanfte Medizin.
Lust aufs LEBEN:
Und man könnte damit auch die Scharlatanerie mit ihren Heilsversprechen besser eindämmen...
Dr. Grams:
Ich glaube halt nur, der einzige Knackpunkt bei diesem Weg ist, dass man dann auch den inneren Schweinehund öfter mal überwinden müsste und sich nicht nur passiv behandeln lässt. Wenn ich selbst wieder in die Bewegung gehe und nicht einfach nur ein Schmerzmittel einnehme, dann muss ich selbst etwas tun. Und da ist manchen die sanfte Medizin auch eine willkommene Ausrede.
Lust aufs LEBEN:
Das ist bei Diätversuchen ähnlich. Lieber einem Versprechen Glauben schenken als zum Beispiel einfach weniger Kalorien aufnehmen als zu verbrauchen. Wir haben eine Scheu vor Eigenverantwortung.
Dr. Grams:
Ich schreibe das auch in meinem Buch: die größte Errungenschaft der modernen Medizin ist nicht, ob Operation X oder Medikament Y hilft, sondern die Gesundheitskompetenz und der Patientenschutz. Da müssen wir auch noch weiter aufklären und sagen: „Du bist selbst auch zu einem gewissen Teil für deine Gesundheit verantwortlich!“
Lust aufs LEBEN:
Auch der Pflanzenheilkunde stehen Sie eher positiv gegenüber: Pfefferminzöl bei Kopfschmerzen etwa sei eine gute Sache, sagen Sie. Was noch?
Dr. Grams:
Was man bei der Pflanzenheilkunde nicht unterschätzen darf: wo ein Wirkstoff vorhanden ist, gibt es immer auch ein Schadenspotenzial. Eine Pflanze will uns nicht einfach nur Gutes. Der Fingerhut etwa ist ein wirksames Herzmedikament, kann aber im Übermaß auch töten.
Lust aufs LEBEN:
Also keine Wirkung ohne Nebenwirkung?
Dr. Grams:
Das ist leider das Problem. Und auch nicht ohne Wechselwirkung. Johanniskraut ist ein relativ gut erforschtes Mittel gegen leichte Depressionen und Stimmungsschwankungen, interagiert aber mit der Anti-Baby-Pille. Wenn man das als Frau nicht weiß, riskiert man womöglich eine Schwangerschaft.
Lust aufs LEBEN:
Gesundheitsvorsorge wird immer wichtiger. Was raten Sie als Ärztin Menschen, um gesund zu bleiben?
Dr. Grams:
Es ist leider ganz einfach – wir wollen es nur nicht so gerne hören: halbwegs gesund essen, so viel Bewegung wie möglich, keinen Alkohol trinken und nicht rauchen.
Lust aufs LEBEN:
Gar kein Alkohol?
Dr. Grams:
Am besten ja.
Lust aufs LEBEN:
Nicht einmal das berühmte Glas Rotwein am Tag?
Dr. Grams:
Naja, man weiß ja auch, dass ein Wohlgefühl zur Gesundheit beiträgt. Wenn das eine (!) Glas Rotwein dazu beiträgt, das ist nicht das Problem, Aber ich glaube, wir haben einen sehr unbewussten Zugang zu Alkohol. Und viele trinken einfach zu viel, ohne jemals darüber nachzudenken.
Lust aufs LEBEN:
Wie wichtig ist die Psyche für die Gesundheit? Soziale Kontakte? Nicht zu viel Stress?
Dr. Grams:
Ganz wichtig. Das hat mich auch überrascht bei der Recherche zu meinem Buch: gute soziale Kontakte, gerade im Alter, sind eine wichtige Gesundheitsprophylaxe.
Lust aufs LEBEN:
Wie halten Sie selbst sich gesund?
Dr. Grams:
Ich mache sehr viel Sport, Yoga und bin Rennrad-Fahrerin. Ich habe auch lange Zeit Basketball gespielt. Aber mit drei Kindern komme ich nicht mehr dazu.
Ich trinke kaum Alkohol, esse bewusst und mache viele Achtsamkeitsübungen, auch Meditation. Diese Auszeiten sind mir im stressigen Alltag extrem wichtig. Ich nehme mir auch ab und zu einen halben Tag frei, etwa um schwimmen zu gehen oder in den Wald. Ohne dem würde ich mein Arbeitspensum nicht bewältigen – oder dabei nicht gesund bleiben können.
Lust aufs LEBEN:
Und Meditation wirkt?
Dr. Grams:
Ja. Also nicht ursächlich – eine Lungenentzündung geht damit natürlich nicht weg. Aber als komplementäre Verfahren sind Achtsamkeitsübungen empfehlenswert. Dabei ist es nicht wesentlich, ob sich dahinter ein spiritueller Hintergrund verbirgt – oder ob es einfach nur Atemübungen sind. Gerade begleitend könne diese sehr gut helfen, etwa bei Schlafstörungen, Nervosität und anderen Stress-Symptomen.
Lust aufs LEBEN:
Worauf achten Sie bei Ihrer Ernährung?
Dr. Grams:
Ich versuche mich vegan bis vegetarisch zu ernähren, aber nicht zu streng. Hier in Wien habe ich ein köstliches Schnitzel gegessen. Aber ich versuche nach Möglichkeit auf zu viel Fleisch und Zucker zu verzichten.
Lust aufs LEBEN:
Wie stehen Sie zum Intervallfasten?
Dr. Grams:
Ich denke, das macht für viele Menschen Sinn, weil sie sich dadurch bewusst mit Ernährung auseinandersetzen und nicht ständig zwischendurch snacken. Die Studienlage ist aber noch nicht ausreichend, dass man sagen könnte, es ist das Non plus Ultra. Die Frage ist ja, wie sich das Fasten langzeitlich auswirkt – also ob dadurch die Menschen tatsächlich länger leben, weniger dement werden oder inwiefern dadurch die Herzinfarkt-Rate sinkt. Dazu gibt es noch nicht genügend Daten. Die DGE (Deutsche Gesellschaft für Ernährung, Anm.) empfiehlt Intervallfasten deshalb auch noch nicht, sondern sagt, sich ausgeglichen zu ernähren, sei das Beste. Ich denke: alles, was man auf Dauer durchhält und was die Achtsamkeit im Umgang mit Ernährung und sich selbst fördert, ist gut. Und wenn jemand sagt, für mich ist es das Intervallfasten und der nächste, für mich ist es die vegane Ernährung – in Ordnung. Wichtig ist, für sich eine gute Maßnahme zu finden, die sich in den Alltag integrieren lässt.
Lust aufs LEBEN:
Individualität ist also entscheidend.
Dr. Grams:
Das ist auch die Richtung, in die sich die moderne Medizin hin entwickeln wird. Auch in der Krebstherapie gibt es DEN Krebs und DIE Behandlung schon seit 20 Jahren nicht mehr. Dadurch wird es auch immer schwieriger, generelle Aussagen zu treffen. Das wird die Medizin auch verändern.
Lust aufs LEBEN:
Was tun Sie, wenn Sie Schnupfen haben?
Dr. Grams:
Tee trinken, ins Bett legen, Serien gucken. Ich bin für pflanzliche Mittel, etwa bei Magenbeschwerden – aber ich nehme generell nicht gerne Mittel ein. Ich weiß, dass das meiste ohnedies von alleine vergeht und kann daher in Ruhe abwarten.
Lust aufs LEBEN:
Sind Sie ein spiritueller Mensch?
Dr. Grams:
Ich bin kein gläubiger Mensch mehr. Ich war das früher mehr, als ich noch an die Homöopathie und an das Energetische geglaubt habe. Ich glaube aber schon, dass es gut tut, irgendetwas zu haben, das einen hält – die Liebe oder ein humanistisches Weltbild, das über den rein egoistischen Standpunkt hinausgeht.
Lust aufs LEBEN:
Also gibt es doch etwas zwischen Himmel und Erde, das man sich nicht genau erklären kann?
Dr. Grams:
Ich glaube, dass das eher etwas Psychologisches denn etwas Metaphysisches ist. Wir Menschen tragen sicher Teile uns, die nicht rational sind. Aber die Frage ist: müssen wir diesem Teil mit noch mehr Irrationalität begegnen oder gibt es dafür auch eine rationale Grundlage? Können wir dem auch begegnen ohne spirituell-esoterisch zu sein? Reicht es nicht, ein guter Mensch zu sein? Ich denke, der humanistische Ansatz ist für mich am naheliegendsten.
Nathalie Grams, 42
ist deutsche Ärztin und Autorin. Bekannt wurde sie 2015 mit ihrem Buch „Homöopathie neu gedacht – Was Patienten wirklich hilft“, insbesondere, weil sie bis dahin praktizierende Homöopathin gewesen war. Im Februar erschien ihr drittes Buch „Was wirklich wirkt“. Grams lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Heidelberg.
Infos: www.natalie-grams.de
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BUCHTIPP:
Dr. Natalie Grams: Was wirklich wirkt. Kompass durch die Welt der sanften Medizin. Aufbau Verlag, um € 18,50.