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Tinnitus: Wenn es ständig laut ist

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15 min
Tinnitus: Wenn es ständig laut ist
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Tinnitus ist keine Erkrankung, sondern ein komplexes Symptom.

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k.A © Verlagsgruppe Random House GmbH, Muenchen

Neuesten Statistiken zufolge hat ein Viertel aller Deutschen mindestens einmal im Leben einen Tinnitus. Über 10 Millionen Deutsche (13 Prozent) leben mit länger anhaltendem Tinnitus und ca. 1,6 Millionen sind durch ihn erheblich belastet. "Viele nehmen ihr Ohrgeräusch nicht als störend oder teilweise überhaupt nicht wahr", sagt Tinnitus-Experte, Psychologe und Autor des Buches "Die Tinnitus-Lösung
Die eigene Stille schaffen – Ohrgeräusche dauerhaft ausblenden" (Südwest Verlag) Markus Schwabbaur, "Oft verschwindet der Tinnitus sogar wieder von selbst." Doch bei anderen Betroffenen wird er zu einer dauerhaften Belastung, mit der ein normales Alltagsleben nicht möglich scheint.

Was ist Tinnitus?

Tinnitus leitet sich vom lateinischen Verb "tinnire" ab, es bedeutet "klingeln" oder "klimpern". Ein Tinnitus tritt nicht nur in Form von Klingeln oder Klimpern auf. Er kann in jeglicher Geräusch- oder Tonart vorkommen.
Tatsächlich gibt es auch Tinnitusformen, die sich als Rauschen, Rumpeln, Rasseln, Zirpen, Sausen oder in sämtlichen Mischformen bemerkbar machen. "Auch lokalisiert ihn jeder Betroffene woanders. Mal ertönt ein Tinnitus nur rechts oder links, mal beidseitig, er kann auch wechselseitig vorkommen oder sogar als subjektive Ortung beispielsweise mittig im hinteren Schädelbereich, also weit von den Ohren entfernt", sagt Psychologe Schwabbaur.

Diagnose: Tinnitus aurium

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Diagnose: Tinnitus aurium
Markus Schwabbaur © privat

Diagnostisch ist der Tinnitus aurium den Krankheiten des Ohres zugeordnet. Dies könnte den Gedanken nahelegen, die Erforschung der Ursachen und damit auch die Behandlung des Tinnitus sei denjenigen Fachgebieten vorbehalten, deren Vertreter sich mit den Ohren befassen, also in erster Linie die HNO-Fachärzteschaft.
Die Ohrgeräusche sind jedoch nur Symptome einer andernorts angesiedelten Ursache. "Und diese geht eben in den seltensten Fällen auf die Ohren zurück. Das ist wichtig!", sagt Schwabbaur weiter, "Denn nur wenn ich den Tinnitus als ein Krankheitszeichen anerkenne, wird deutlich, dass ich mich auf die Suche nach den in der Regel andernorts gelegenen Ursachen machen muss, die dieses Symptom hervorrufen. Und genau hierin besteht die Schwierigkeit bei der Behandlung von Tinnitus."

Es gibt kein Medikament oder Hilfsmittel gegen Tinnitus

Einige HNO-Ärzte schwören nach wie vor auf die Wirkung von Kortison. Die dreimalige intravenöse Gabe von hochdosiertem Prednisolon in Kochsalzlösung gilt bei vielen als das einzig wirksame Medikament. Doch eine Studie zeigt, dass es keinen signifikanten Unterschied macht, ob man Kochsalzlösung mit oder ohne Kortisonpräparat injiziert. Die Kortisongabe wurde daraufhin aus den medizinischen Leitlinien zur Tinnitus-Behandlung wieder herausgenommen.
"Leider existieren auch bei der Akupunktur sowie Behandlungen mit akustischer Neuromodulation oder hyperbarem Sauerstoff keine Studien, die Anlass zu Optimismus geben", sagt Schwabbaur.
Auch bei Arzneimitteln aus der Gruppe der verschreibungspflichtigen Medikamente wie Antiemetika, Antidepressiva oder Anxiolytika konnte kein therapeutischer Effekt nachgewiesen werden.
Umstritten ist auch, ob Tinnitus durch Probleme der Halswirbelsäule, Nacken- und/oder Halsmuskulatur oder des Kiefergelenks hervorgerufen wird. Auch Bruxismus (»Zähneknirschen«) wird mit dem Kiefergelenk in Verbindung gebracht. "Es existiert also kein Medikament oder sonstiges Hilfsmittel gegen Tinnitus!", sagt Schwabbaur.

Counselling - Mit Mythen aufräumen

Wir sind es gewohnt, in Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen zu denken. Wenn wir ein unerwünschtes Symptom oder Krankheitszeichen an uns wahrnehmen, suchen wir nach dem Auslöser, der Ursache. Dahinter steckt die Überzeugung: Wenn ich die Ursache beseitige, dann verschwindet auch das Symptom.
Allerdings reicht das Eliminieren von Auslösern nicht immer aus: "Oftmals liegen die auslösenden Bedingungen sogar Jahre zurück, die Lebensumstände haben sich inzwischen verändert, doch das Ohrgeräusch quält noch immer. Aber da kein pathologischer Befund vorliegt, wird dem Betroffenen nicht mehr geholfen", so Schwabbaur. Dadurch könne sich ein sogenannter Nocebo-Effekt einstellen. Wenn selbst ein Arzt nicht helfen kann, dann - so die Interpretation des Betroffenen - müsse es wirklich hoffnungslos schlimm um einen stehen.
Ein wichtiges Element in der Tinnitus-Behandlung ist eine objektive Beratung über den Umgang mit Tinnitus: über Heilungs- und Selbsthilfechancen, Problemlösungsstrategien, Möglichkeiten beim Umgang mit dem Problem. Also die Vermittlung und Begünstigung von Hoffnung. Das ist ein wichtiger positiver Wirkfaktor in der Behandlung. Man nennt das Counselling. Nicht ohne Grund wird das Counselling in den offiziellen Leitlinien zur Behandlung von Tinnitus als wirkungsvolle Maßnahme neben der kognitiven Verhaltenstherapie empfohlen.

Tinnitus ist keine Erkrankung – sondern immer ein Symptom!

Kein Tinnitus ist wie der andere. "Das ist auch der Grund, warum Standard-Therapieverfahren nicht immer funktionieren, und auch eine wirksame medikamentöse Behandlung ist noch nicht nachgewiesen2, sagt Schwabbaur. Hauptverantwortlich für den Teufelskreis, der den Tinnitus auslöst und nährt, sind die vier Faktoren Stress, Fokussierung, Bewertung und Anspannung.

Es gibt keine Stille in unserem Leben

Die Geräusche, die ein Embryo im Mutterleib hört, bezeichnet man als Grundrauschen: Mit diesem Grundrauschen kommen wir auf die Welt. Nach der Geburt kommen eine Vielzahl unterschiedlichster Geräusche hinzu und unser Grundrauschen tritt in den Hintergrund unserer Wahrnehmung. Wir deklarieren das bloße Grundrauschen als ‚Ruhe‘. Demnach haben alle Menschen quasi einen »Tinnitus«, nur wird dieser in der Regel nicht beachtet. Und ein Geräusch, das man nur selbst hören kann und das man nicht wahrnimmt … das ist nun mal nicht vorhanden!

Den Alltagsgeräuschen nicht entfliehen

Häufig würden Tinnitus-Betroffene versuchen, den Alltgsgeräuschen zu entfliehen und sich in möglichst ruhige Umgebung begeben. "Allerdings ist es wichtig, dass ein Tinnitus-Patient die Stille vermeidet", sagt Schwabbaur. Jeder Höreindruck verhindert, dass das Tinnitus-Geräusch isoliert ertönt. Ein hoher Triangel-Ton für sich genommen stört eher. Aber im Einklang mit einem Orchester verschmilzt er zu einem harmonischen Wohlklang. Genauso verhält es sich mit dem Tinnituston. "Alleine für sich stresst er und fordert unsere Aufmerksamkeit. Im Zusammenklang mit Umweltgeräuschen jedoch geht er leichter unter. Eine Gewöhnung ist deshalb einfacher und geht schneller vonstatten."
Es gibt grundsätzlich zwei Ursachen für Tinnitus. Entweder kann eine Veränderung in der Hörwahrnehmung zu einem Tinnitus-Leiden führen. Oder es sind die sonst schützenden »Hörfilter« stressbedingt geschwächt, und wir haben zu viel »um die Ohren«.

Chronischer Tinnitus ist nicht die Folge einer Durchblutungsstörung

Nach dem aktuellen Wissensstand ist bei chronischem Tinnitus in der Regel die Durchblutung normal. Das gilt auch für einen akuten Tinnitus ohne Hörverschlechterung. Deshalb sind therapeutische Maßnahmen zur Durchblutungsförderung nicht nötig! Im Gegenteil: Durch die damit vielleicht verbundene Erwartung einer Heilung kann sich die Konzentration auf den Tinnitus erhöhen und damit die gesamte Stressreaktion auf-schaukeln.

Ein Tinnitus wird nicht lauter – wir achten nur mehr darauf!

Tinnitus ist ein On-off-Phänomen. "Das heißt, entweder man hat Tinnitus oder nicht2, sagt der Experte weiter. Er wird aber im Lauf der Zeit nicht immer lauter! Ein Tinnitus wird im Lauf der Zeit eher immer leiser beziehungsweise immer weniger deutlich wahrgenommen.
Tinnitus macht Angst. Doch nicht der Tinnitus selbst beunruhigt die Betroffenen, sondern die Furcht vor seinen Folgen.
Der Tinnitus an sich ist immer gleich laut. Er ist keine schwerwiegende fortschreitende Störung. Entscheidend ist, wie Betroffene mit ihm umgehen. Ob sie den Ton als bedrohlich empfinden und daran verzweifeln. Oder ob sie lernen, ihn aus dem Fokus der Aufmerksamkeit zu nehmen, ihn aus der bewussten Wahrnehmung herauszufiltern und sich so an ihn zu gewöhnen.
Ein an Tinnitus Leidender, von Ängsten vor einer Verschlechterung geplagt, folgt seinen Instinkten und achtet umso gewissenhafter auf den Verlauf seines Tinnitus (dessen Bedeutung dadurch wächst). Je intensiver er darauf lauscht, umso lauter erscheint ihm der Tinnitus auch. Es ist also (wieder) ein Problem der Aufmerksamkeit.
Die Lösung? Der Tinnitus ist irgendwann gekommen, daher ist es genauso wahrscheinlich, dass er wieder verschwindet.

Tinnitus ist nicht der Auslöser einer Hörverschlechterung!

Da Tinnitus keine Ursache, sondern ein Krankheitszeichen, ein Symptom ist, kann er auch nicht die Ursache, der Auslöser einer Hörverschlechterung sein. Bei eintretender Schwerhörigkeit aber kann ein vorhandener Tinnitus durchaus lauter erscheinen. Sollte das Hörvermögen nachlassen, empfehle ich in Absprache mit einer/m HNO-Arzt oder -Ärztin frühzeitig ein Hörgerät, um Hörminderungen auszugleichen. Durch das dann verbesserte Hören der Außengeräusche geht das Tinnitus-Geräusch in vielen Fällen in der allgemeinen Geräuschkulisse unter oder wird sogar davon übertönt.

Ein Teufelskreis beginnt

Dass Tinnitus durch Stress ausgelöst werden kann, wird nicht überraschen. Doch auch umgekehrt verursacht Tinnitus Stress. Dabei ist das Henne-Ei-Problem nicht immer leicht auszumachen. In beiden Fällen folgt aus der Belastung eine erhöhte Aufmerksamkeit auf das Ohrgeräusch. Und Tinnitus kann Angst verursachen - Angst, dass das Geräusch nicht mehr aufhört. Angst, dass uns das Ohrgeräusch fortwährend stört. Angst, dass das Geräusch immer lauter und störender wird. Somit wird der Tinnitus zu einer subjektiv empfundenen Gefahr. Und auf Gefahren reagieren wir mit erhöhter Aufmerksamkeit. Doch je mehr wir auf die Gefahr achten, umso stärker nehmen wir sie auch wahr. Das Ohrgeräusch erscheint uns also dadurch noch lauter. Eine fatale Folge.
Wir können jedoch lernen, unsere starke Fokussierung auf den Tinnitus wieder zu reduzieren. Und somit diesen Kreislauf wieder zurückdrehen. Wenn da nicht die Angst vor den Folgen eines chronischen Tinnitus wären. "Diese Befürchtungen verstärken wiederum die Symptomatik. Sie führen zudem zu einer gesteigerten Anspannung", sagt Schwabbaur. Denn unter Stress befindet sich unser Nervensystem unter erhöhter Alarmbereitschaft. Im Kampf- oder Fluchtmodus macht sich unser Körper bereit und erhöht den Muskeltonus. Folgen der erhöhten muskulären Anspannung sind in vielen Fällen schmerzhafte Verspannungen, meist in Schulter- und Nacken.
Es ist nicht einfach, unter diesen Bedingungen zu entspannen. Aber genau dies wäre nun die adäquate Gegenmaßnahme: Wie können Sie lernen, sich körperlich und auch psychisch wieder zu entspannen? Der Tinnitus-Ratgeber gibt auch hierauf Antworten. Über einen theoretischen Hintergrund in jedem Kapitel der Einflussfaktoren folgen jeweils Übungen zur erfolgreichen Abhilfe. Die Übungen werden zudem, wo angebracht, als Audioübungen vorgesprochen und angeleitet. So können sich Betroffene voll und ganz auf sich und ihren Körper konzentrieren.

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k.A © VGN

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