Meine erste Workation

Meine erste Workation

Echt? Jetzt arbeitest du auch noch im Urlaub?

Mein Urlaub beginnt damit, dass mich ein lautes Geräusch um 3.15 Uhr in der Nacht aufschrecken lässt und ich weiß in der Sekunde, was es ist: meine Tochter, 16, zieht ihren Reisekoffer über den schmalen Gehweg, der zu unserem Haus führt. Mist, ich bin zu spät! Wieder einmal.
She’s leaving home, aber zum Glück nur für eine Woche: Klassenreise, Spanien. Ich reiße das Fenster auf und rufe ihr noch nach: „Schöne Reise!“, aber sie hört mich nicht mehr und ist wohl schon im Auto mit den Freundinnen, das sie um diese Un-Zeit zum Flughafen bringt.

Egoistisch, geizig und karrieregeil

Ich bin keine gute Mutter. Eine gute Mutter wäre rechtzeitig aufgestanden, hätte ein ordentliches Jausenbrot für unterwegs zubereitet und das Kind nochmals fest gedrückt. All das hat der Vater getan – wie immer. Ohne viel Aufhebens davon zu machen oder gar Dank zu erwarten. Dabei muss er am nächsten Tag um acht Uhr in der Schule sein und sechs Stunden durchunterrichten, während ich ausschlafen kann, weil ich Urlaub habe.
Bevor Sie jetzt diesen Newsletter stornieren, weil Sie mit einer Egoistin wie mir nichts mehr zu tun haben wollen (was Ihnen natürlich frei steht), habe ich zu meiner Rechtfertigung nur zu sagen, dass ich meinen Urlaub nicht wie eine tote Fliege auf der Massage-Liege verbringe (das kommt erst), sondern tatsächlich arbeite. Ich habe mir den lange gehegten Traum einer „Workation“ erfüllt – also einer Auszeit, in der ich einige Stunden am Tag Artikel für unser Magazin zusammenstelle, den Social Media Account update oder eben diesen Newsletter schreibe.
Nicht falsch verstehen: zwei Wochen lang am Stück abschalten, ist wunderbar und auch ab und zu notwendig. Dennoch ist es in meinem Fall immer so, dass ich davor und danach Mega-Stress habe, sodass ich das Nichtstun meist nicht so genießen kann, wie ich mir das wünsche. Früher oder später greife ich dann erst zu Füller und Notizblock. Und jetzt sitze ich in einem sehr charmanten Café und darf ungestört kreativ sein: ohne Deadline, ohne Pflicht-Termine, die Mail-Abwesenheits-Notiz aktiviert. Selten habe ich mich so frei gefühlt. Warum hab ich so etwas nicht schon viel früher gemacht?

Arbeiten neu gedacht

Weil ich nicht nur egoistisch, sondern auch geizig bin: warum sollte ich meine wertvolle Urlaubszeit zum Arbeiten nutzen? Ich mach doch eh schon mehr als genug! Einer meiner erhellendsten Erkenntnisse der letzten Zeit war, dass diese Gedanken ein Schmarren sind, weil sie auf dem alten Dogma beruhen, man müsse „Work“ und „Life“ trennen (eine großartige Coverstory dazu gibt es übrigens in der aktuellen Ausgabe von Lust aufs LEBEN). Bei mir ist das eben nicht so. Und auch wenn mir Gutmeinende davon abraten, die Grenzen zwischen Berufs- und Privatleben aufzulösen („Bist du mit dem Verlag verheiratet?“, „Das zahlt dir doch niemand!“), höre ich doch lieber auf mein Bauchgefühl, das mir sagt: du tust gerade genau das Richtige.
Mein Mann sieht das übrigens genau so: Go for it, Baby! Und das, obwohl er ganz anders tickt und sich zum Stress-Abbau lieber Endorphin-Räusche am Mountainbike, im Schwimmbad oder in den Bergen holt. Das Schöne: ich lasse ihn, er lässt mich. Mein Flow, dein Flow.

Zitat von Dylan, Film mit Bowie

Es ist nun Nachmittag und ich frage mich, ob die Teenager-Tochter nach einem Zwischenstopp in Zürich wohl bereits in Alicante gelandet ist und vielleicht sogar schon ein Foto von der Costa Blanca geschickt hat. Also scrolle ich durch meine Whats-App-Nachrichten. Unlängst erst hat sie mir ein Zitat geschickt aus einem Roman, den sie gerade liest. Es ist von Bob Dylan und ich fand es wunderbar und hab ihr drei rote Herzen zurück gesendet. Vielleicht hab ich ja doch nicht alles falsch gemacht.
In dem Moment poppt eine neue Nachricht auf, von meinem Mann. Ob ich noch im Café bin? Er würde zu mir stoßen und nein, von der Tochter habe er auch noch nichts gehört, aber wir könnten uns doch am Abend den neuen Bowie-Film im Kino ansehen? Und ich sag, ja, super Idee oder wir schauen Netflix. Wir haben ja sturmfrei.
Kristin Pelzl-Scheruga ist Chefredakteurin von Lust aufs LEBEN