Was ist schon normal?

Was ist schon normal?

Ich stehe zu meinen Spleens

Als wir vor Weihnachten in Graz waren, haben wir in einigen dieser ästhetisch ansprechenden, nachhaltigen Design-Shops gestöbert. Vielleicht, so dachten wir, würden wir ein cooles Weihnachtsgeschenk für das Teenager Mädchen finden. Es sind jene Geschäfte, in denen man gerne Zeit verbringt, weil sie nichts mit der täglichen Einkaufsroutine („Besorgst du noch Klopapier? Haferflocken sind auch aus!“) zu tun haben.

Zwischen dekorativ angeordneten Schreibwaren, Duftkerzen und Teetassen, ist uns ein Karten-Set in die Hände gefallen, auf dem stand: „Bin ich normal?“. Es enthält 52 Karten mit Aussagen, die man für sich selbst oder in einer Runde beantworten kann, wie zum Beispiel: „Ich habe oft das Gefühl, die unattraktivste Person im Raum zu sein“ oder „Ich liebe es, Paare in der Öffentlichkeit beim Streiten zu beobachten.“

Laut Herausgeber („The School of Life“) sind viele der Gedanken, für die wir uns schämen, da wir sie für „besorgniserregend und sonderbar“ halten, im Grunde völlig normal. Laut Beschreibung wirkt das Karten-Set „beruhigend und dient außerdem der Selbstfindung.“ Wir haben es gekauft.

Was ist schon normal? Der Self-Check!

Jetzt liegt es ziemlich unbeachtet im Teenagermädchen-Zimmer und weil ich mich gerade ein wenig beruhigen und selbst finden möchte, nehme ich das Spiel zum Anlass, über meine eigene „Verrücktheit“ nachzudenken:

Ich mag kein Obst, esse aber täglich Marmelade.

Es ist für mich kein Problem, im Winter in einen eiskalten See zu springen (aber Einschlafen kann ich nur mit warmen Socken) .

Songs erkenne ich eher an ihren Texten als an ihren Melodien.

Als Studentin habe ich im Zuge eines Interrail-Trips auf einem Bahnhof in der Bretagne zu Gitarrenbegleitung in Tina-Turner-Manier den Song „Get Back!“ gekreischt, obwohl ich nicht singen kann.

Ich habe mich als Kind geweigert, an einem Spinnrad vorbei zu gehen – aus Angst davor, wie Dornröschen in einen hundertjährigen Schlaf zu verfallen.

Wenn vor Damentoiletten eine zu lange Schlange wartet, gehe ich auf Männerklos.

Ich kann jede Textzeile des gesamten Beatles-Werks auswendig, merke mir aber die Namen meiner engsten Mitarbeiter*innen nicht.

Einen Tag lang bin ich mit einem Plastiksack auf dem Kopf durch Berlin spaziert, weil es geregnet hat und ich mir keinen Schirm leisten wollte.

Ich habe mich ausgerechnet in den Freund meiner besten Freundin verliebt.

Western öden mich an; trotzdem liebe ich die alten Winnetou-Filme (und konnte als Kind mitsprechen).

Ich ertrage es nicht, wenn Menschen neben mir schmatzen, bin aber so tolerant, völlig andere Meinungen und Gesinnungen zu akzeptieren.

Auf Grund meiner immer schon ausgeprägten Neigung zur Hypochondrie lese ich Unmengen an Gesundheitsratgebern. Der Beste sagt, ich werde einmal an einem Druckfehler sterben. Aber bis es so weit ist, lebe ich lieber ungewöhnlich.

Kristin Pelzl-Scheruga ist Chefredakteurin von Lust aufs LEBEN