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Heute für morgen denken

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Heute für morgen denken
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Sonja Radatz, Beraterin, Vordenkerin und Begründerin der „Relationalen Philosophie“ zeigt im Interview, warum wir jetzt dringend nachhaltige Veränderungen brauchen.

COVID-19 sei nur die Spitze des Eisbergs, ist Dr. Sonja Radatz, Begründerin des Relationalen Philosophie und Leiterin des Wiener Instituts für Relationale Beratung und Weiterbildung (IRBW) überzeugt. Die Pandemie beschleunige, was ohnehin längst nötig ist: „Jeder von uns muss sich neu positionieren, um im digitalen, globalen Zeitalter erfolgreich zu sein.“

Ein „Danach“ im Sinne eines „Zurück zur Normalität“ werde es nicht geben. Auf der virtuellen Plattform www.mindchanger.net ruft sie zum internationalen Austausch mit Top-Experten auf. Wir haben mit der Vordenkerin über den dringend nötigen Change gesprochen.

Lust aufs LEBEN: Inwiefern sind Sie der Ansicht, dass wir tendenziell Probleme viel zu lange auf uns zukommen lassen – zum Beispiel bei Corona?
Dr. Radatz: Wir tun so, als würde die Welt weitergehen und wenden dabei immer wieder die alten Vorgehensweisen an, die jetzt aber nicht mehr greifen. Es gibt den Spruch: „Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht“. Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen am liebsten sogar noch mit den Scherben zum Brunnen gehen.

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Dr. Sonja Radatz © IRBW

Lust aufs LEBEN: Was ist also der wichtigste Shift, den wir machen müssen?
Dr. Radatz: Wir müssen verstehen, dass die Welt digital und global funktioniert. Beispielsweise haben wir nach dem Tod von George Floyd plötzlich weltweite Demos gegen Rassismus erlebt. Somit kennt George Floyd jeder – die Welt ist also global geworden. Und wenn wir heute sagen: „Ich möchte das Produkt x haben“, dann bekomme ich es: Ich suche auf Google und dort finde ich es.

Unternehmen stellen sich entsprechend die Frage: Wo bekomme ich die Leistung her, die ich brauche? Die Antwort ist: Ich kaufe sie ein – egal wo. Wenn es in Indien besonders gute Leute gibt, hole ich mir sie per Teamviewer ins Haus, um ein EDV-Problem zu lösen und warte nicht darauf, dass sich jemand in Österreich bewirbt. Insofern gleichen sich Nachfrage und Angebot weltweit aus. Oder wir greifen auf digitale Helfer zu.

Dann müssen wir natürlich auch global verstehen, dass wir unser Denken radikal verändern müssen, wenn wir auf diesem Planeten länger zu Gast bleiben wollen. Da hilft uns natürlich die Digitalität, denn sie ermöglicht nicht nur den Shift vom Autofahren zum Homeoffice, sondern auch den noch viel wichtigeren vom „Besitzen“ zum „Nutzen“. Das betrifft nicht nur den konsequenten Fokus auf die Produktgarantie und Haltedauer, sondern auch den Trend zum Nutzen eines – dann selbstfahrenden – Autos per App anstatt es vor der Tür stehen zu haben. Und das ist erst der Anfang! Die Generation Z führt uns das vor. Hier wird sich unser Leben komplett drehen (müssen). Von „mehr Produktion“ für „mehr Konsum“ werden wir in Zukunft nicht mehr ausgehen (können).

Lust aufs LEBEN: Zugleich erleben wir einen enormen Bevölkerungswandel. Wir groß ist hier der Handlungsbedarf?
Dr. Radatz: Dieser wird viel zu wenig gesehen: Wir wollen ihn möglicherweise nicht sehen, obwohl wir wissen, dass er existiert. Wir erleben erst jetzt (!) den drastischen Rückgang der Geburtsraten im erwerbsfähigen Alter.

Im Klartext heißt das: Wir finden in vielen Bereichen bald keine Experten mehr, zum Beispiel fehlen Handwerker und viele, viele IT-Fachleute. Im Fachbereich haben wir einen absoluten Mangel an Personal, das wir dringend bräuchten. Das führt wiederum dazu, dass wir in allen Bereichen versuchen, zu digitalisieren. Wenn ich heute keine gute Assistentin mehr bekomme, bin ich wohl oder übel gezwungen, mich anders zu organisieren.

Lust aufs LEBEN: Zum Beispiel mit digitalen Tools …
Dr. Radatz: Es gibt bereits Programme, die gesprochene Worte in Text verwandeln oder die handschriftlich Geschriebenes in digitale Dokumente transformieren. Termine werden über Doodle gemacht, dazu braucht man keine Assistentin mehr.

Lust aufs LEBEN: Seit einer gefühlten Ewigkeit wird über Bildungsreformen diskutiert ...
Dr. Radatz: Seien wir doch ehrlich: Schulen machen seit etwa 200 Jahren das Gleiche. Seit Corona wurde sichtbar, dass Inhalte, die dort vermittelt werden, besser und schöner und knapper auf Youtube erhältlich sind. Das ist doch heute alles „totes“ Wissen! Viele Schüler haben auch verzweifelt versucht, den Lehrern beizubringen, wie man Zoom verwendet. Zusammengefasst erlebe ich: Das Angebotene ist nicht mehr zeitgemäß.

Es geht meines Erachtens um ganz andere Fragen – um Fragen, deren Antwort erst erfunden werden muss. Würde ich den Schülern heute die Maturaaufgabe stellen, ein Pandemiekonzept für Österreich zu gestalten, wäre das ein viel eindrucksvolleres Reifezeugnis! Dafür bräuchten wir auch nicht mehr darauf achten, dass nicht geschummelt wird – weil bei allen neuen Fragestellungen Schummeln zwecklos ist, denn es geht bloß darum, das „tote“ Wissen auf Google & in Lehrbüchern zu nutzen, um kreativ neues Wissen zu entwickeln.

Auch an der Uni ist von freiem Denken oft nicht mehr viel in Sicht. All diese Systeme sind nicht wirklich geeignet, um die nächsten 100 Jahre Erfolg zu feiern.

Lust aufs LEBEN: Inwiefern sehen Sie diese Zeitspanne als wichtig?
Dr. Radatz: Nun, Menschen, die heute in die Schule gehen, werden wahrscheinlich 100 Jahre leben oder mehr. Wenn sie für sie zukünftig Wichtiges in der Schule jetzt nicht mitbekommen, wird es später drastisch. Und da geht es meines Erachtens überhaupt nicht um „Gegenstände“, sondern um das „Wie“: Wie lerne ich selbständig zu denken? Wie kann ich optimal kooperieren? Wie lerne ich, mich mit meinen Ideen verständlich und interessant zu machen? Wie finde ich heraus, worum es mir im Leben geht, wofür ich stehe und was ich richtig gut und gern mache?

Lust aufs LEBEN: Was können wir also tun?
Dr. Radatz: Wir können mit den Scherben weiterhin zum Brunnen gehen oder sagen: Das ist die beste Gelegenheit, unsere Welt neu zu gestalten, weil sie uns ansonsten auf den Kopf fällt! Viel zu spät fiel uns auf, dass der dramatische Geburtenrückgang seit 50 Jahren dramatische Folgen haben würde. Wir wissen seit 30 Jahren, dass sich hier etwas verändert hat! Aber wir haben nichts getan.

Lust aufs LEBEN: Was bedeutet das für die Arbeitswelt?
Dr. Radatz: Ich muss mich darauf einstellen und mich fragen: Ist Arbeit noch ein Thema – im Zeitalter der Digitalisierung, in der ich weltweit ein Problem habe mit Pflege und Kinderbetreuung? Da wäre ein logischer erster Schritt, dass wir wahrscheinlich eine Grundsicherung von 500 bis 600 Euro monatlich brauchen, die uns flexibel macht. Förderungen brauchen wir dann keine mehr, und auch niemanden mehr, der die Förderanträge bearbeitet und sie „gewährt“.

Die Menschen können dann beginnen, zu überlegen, „Was will ich wirklich im Leben?“ Eine Grundsicherung würde Zeit geben, Eltern zu pflegen und Kinder zu betreuen, das Leben zu erleben oder auch eine Firma zu gründen. Oder sich auch mal eine Auszeit zu nehmen, um Neues zu lernen oder das Berufsleben nochmals völlig neu aufzustellen.

Dann kann es aber durchaus auch Lebensphasen geben, in denen wir 60 bis 80 Stunden pro Woche arbeiten. Die Menschen, die ich kenne, wollen alle aktiv und nützlich sein. Und wer nicht arbeiten will, hat vielleicht andere Interessen, die der Menschheit helfen, weil er für andere Menschen da ist oder sich sozial engagiert. Ich erlebe, dass die Menschen eben nicht „faul“ sind.

Lust aufs LEBEN: Flexibilität soll ein neuer Grundpfeiler sein. Woran werden wir das merken?
Dr. Radatz: Unternehmen werden künftig nicht mehr anstellen, sondern in Netzwerken arbeiten. Große Unternehmen wie Google, HP und Microsoft zeigen es schon vor: Sie setzen Leute frei und lassen sie Unternehmen aufbauen und holen sie vielleicht später wieder herein. Jetzt ist es höchste Zeit, über diese Themen zu sprechen und entsprechende Ideen zu generieren, andernfalls wird uns auch dieses Thema sehr viel Geld kosten!

Lust aufs LEBEN: Was ist der wichtigste Schritt, den die Arbeitswelt braucht?
Dr. Radatz: Die Frage ist: Schaffen wir erstmals seit hunderten Jahren das historische Ereignis, dass die Arbeit zum Menschen passt und nicht der Mensch sich der Arbeit anpassen muss? Dass wir das leben können, was wir wirklich gut können und wofür wir brennen, und dass wir uns an der Welt freuen können – und dass diese Welt schlussendlich auch überlebt? Wir können wahnsinnig dankbar sein, dass es Menschen gibt, die zur Antarktis fahren und Seelöwen helfen, wieder ins Meer zu kommen oder andere, die überlegen, wie wir das während des Flugs verwendete Kerosin wiederverwenden können.

Ebenso brauchen wir Künstler, die Menschen den Spiegel vorhalten und sie zum Weiterlernen anregen. Nur zu sagen: „Die Reinigungsfrau hat keinen Job mehr“ ist zu kurz gegriffen. In wenigen Jahren gibt es Hausroboter, die das ganze Haus putzen und auch den Rasen mähen. Sie werden in Silicon Valley gerade getestet.

Lust aufs LEBEN: Arbeit soll also Sinn und Freude machen!
Dr. Radatz: Menschen werden immer klüger, so erlebe ich es, und wir haben meines Erachtens das Recht, uns die Welt so zu gestalten, dass wir ein Leben haben. Warum sollten wir ein schlechtes Gewissen dafür haben? Wir brauchen in Zukunft Menschen, die einen echten Mehrwert schaffen und etwas originär anbieten können. Und das kann auch etwas ganz Kleines sein!

Die vermeintliche Sicherheit, angestellt zu sein, ist meines Erachtens eben nur vermeintlich. Irgendwann werden Menschen freigestellt und sind nicht vorbereitet darauf. Für mich ist das keine Sicherung, sondern eine Unverträglichkeit. Ich halte es für sinnvoll, die Menschen wieder mit Kreativität und Freude am Tun vertraut zu machen.

Schlagen wir allerdings die Zeitungen auf, dann sind die Seiten voll von Beiträgen über Arbeitsmarktprogrammen, die für Berufe ausbilden, die wir morgen nicht mehr brauchen. Und zum Teil schon heute nicht mehr.

Lust aufs LEBEN: Was ist ein erster Schritt dorthin für jeden einzelnen?
Dr. Radatz: Dass wir wieder zu denken beginnen: „Was interessiert mich? Wo sehe ich eine Lücke? Wo ist mein Hobby?“ In dieser Lücke werde ich tätig. Entweder im digitalen oder im menschlichen Umfeld. Oder an einer Schnittstelle zwischen digital und menschlich. Wenn ich in einer globalen Welt leben, muss ich mich wohl auch global umschauen mich fragen: „Was sind meine künftigen Möglichkeiten und Gefahren?“ Dann kann ich reagieren. Die Verbindung von Mensch und Digitalisierung zu schaffen ist ein extrem breites berufliches Thema unserer Zukunft.

Lust aufs LEBEN: Sie kritisieren auch die derzeitigen politische Strukturen. Was sind die größten Mankos?
Dr. Radatz: Im Parlament gibt es keinen einzigen Repräsentanten der bis 20-Jährigen aber sie wählen, seit sie 16 sind! Und wir haben einen extremen Überhang der über 70-jährigen Wähler, die ebenfalls keinen Repräsentanten im Parlament haben. Ebenso wenig sind die weniger intellektuellen Wähler vertreten, weil im Parlament zu 80 Prozent AkademikerInnen vertreten sind. Den Bauarbeiter finden sie dort nicht.

Wir haben leider keine Demokratie, wie ich sie aus der Geschichte des alten Athens kenne. Eher geht es meines Erachtens darum, den Menschen bloß das Gefühl zu geben, dass sie mitsprechen können. Der Politikexperte Prof. Nicholas Gruen in Sydney spricht davon, dass unsere heutigen Demokratien ja bewusst wie kleine Kaiserreiche konstruiert wurden.

Die große Frage ist: Ist das alles noch zeitgemäß? Die Menschen spüren: Nein, das ist es nicht. Und gehen immer weniger häufig wählen. Auch hier werden voraussichtlich ganz andere Systeme entstehen.

Die Anmeldung ist unter www.mind-changer.net jederzeit möglich, die Teilnahme kostet ab EUR 29,90 pro Monat. Zudem gibt es Packages für Unternehmen, NGO´s, Vereine, Ministerien und Stadtverwaltungen, die das Programm für ihre Führungskräfte oder alle Mitarbeiter buchen können.

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