Ess-Sucht erkennen und heilen

Ess-Sucht erkennen und heilen

Wir haben mit der Vertreterin der anonymen Selbsthilfegruppe in Wien für Ess-Sucht über Heilungswege gesprochen.

Lust aufs Leben: Was sind häufige Ursachen von süchtigem Essen?
Martha*: Es ist schwer zu erfassen, denn manche hatten eine glückliche Kindheit und manche nicht. Die Erfahrung zeigt, dass gefühlte 90 Prozent jener, die mit dem zwanghaften Essverhalten aufhören wollen, eine Missbrauchserfahrung haben. Zudem scheint ein schlechtes Selbstbild mit Sucht Hand in Hand zu gehen.

Lust aufs Leben: Was ist die Konsequenz?
Martha*: Der einzige Weg, aufhören zu können, ist sich selbst zu mögen. Um sein Selbstbild radikal zu verändern, braucht es aber eine echte Anstrengung. Viele haben schon Therapien gemacht und sie haben gegen die Sucht nicht wirklich geholfen. Das 12 Schritte-Programm und eine Selbstbildveränderung zeigen Wege hinaus.

Lust aufs Leben: Worauf basiert das 12 Schritte-Programm für Overeaters?
Martha*: Es stammt ursprünglich von den Anonymen Alkoholikern. Heuer genau vor 60 Jahren haben sich drei esssüchtige Frauen in Los Angeles zusammengetan und fragten sich, ob das 12 Schritte Programm auch bei Ess-Sucht helfen kann. Sie probierten es aus und es funktionierte! dann holten Sie sich die Erlaubnis der AA, es auch für Ess-Sucht anzuwenden.

Lust aufs Leben: Was ist die Essenz der 12 Schritte?
Martha*: Der erste Schritt heißt, dass wir anerkennen, dass wir ein Problem haben oder hatten, gegenüber dem wir machtlos waren und das wir selbst nicht mehr meistern konnten oder können. Endlich geben wir es zu, dass wir gekämpft haben! Das Programm der Overeaters Anonymous ist wie auch das der Anonymen Alkoholiker ein spirituelles. Wir erkennen also an eine höhere Macht an, und das unabhängig von einer Religion. Im Laufe der 12 Schritte findet eine innere Veränderung statt. Wir versuchen während des Arbeitens im Programm, herauszufinden, wer wir selbst wirklich sind. Wenn während des Programms alle vorher mit Essen unterdrückten, schmerzlichen Gefühle hochkommen, sind andere Personen da, die Verständnis haben und einander unterstützen. Man fühlt sich in diesem Prozess getragen. Wir geben keine Ratschläge, sondern erzählen nur von uns selbst. Bei Ess-Sucht und Ess-Brechsucht sowie anderen Ess-Süchten wie z.B. auch Magersucht geht es darum, Gefühle zu betäuben.

Lust aufs Leben: Was hilft bei diesem Prozess?
Martha*: Ziel ist, selbstzerstörerische Gedanken gegen die Erfahrung von Kraft und Hoffnung zu tauschen. Wir erzählen auch von unseren Problemen in Zusammenhang mit der Sucht: Wie ist es uns gelungen, besser damit umzugehen? Das hilft auch den anderen. Das Wichtigste ist uns, dass wir uns nur für einen Tag von der Sucht befreien. Das ist schon ein großer Erfolg! Dann können immer mehr daraus werden.

Lust aufs Leben: Was hilft Ihnen dabei persönlich zum Beispiel?
Martha*: Ich habe meine Suggestivsätze wie "Es darf mir gut gehen" oder "Das Wichtigste zuerst". Außerdem meditiere ich. Wenn ich merke, dass ich gerade wieder esssüchtig bin, rufe ich eine nahestehende Person an und ich erzähle ihr davon.

Lust aufs Leben: Wie gehen Angehörige mit Ihrer Sucht um?
Martha*: Ich bin verheiratet und habe drei erwachsene Kinder und drei Enkelkinder. Mein Mann unterstützt mich, indem er mich zur Selbsthilfegruppe gehen lässt und überhaupt Verständnis hat. Sucht ist immer auch ein Problem der Familie. Man muss sich bewusst sein: Wenn ich an meiner Sucht etwas ändere, hat das Auswirkungen auf alle. Es ist auch eine Familienkrankheit. Wenn man sich verändert, ist das nicht immer für alle angenehm! Denn jeder hat in der Familie seine Aufgabe. Der Süchtige ist eben süchtig. Die Sucht ermöglicht ja immer auch etwas anderes, was ohne die Sucht nicht möglich wäre.

Lust aufs Leben: Was bedeutet das in der Praxis?
Martha*: Wenn ich mich selbst verändere, kann es zum Beispiel sein, dass ich mir mehr Zeit für mich selbst nehme und weniger für die Familie. Alleine dadurch, dass ich Zeit in der Selbsthilfegruppe verbringe. Man lernt also auch, seine Bedürfnisse durchzusetzen. Es gab auch schöne Momente zum Beispiel mit meinem Vater. So wurde ich in der Gruppe dazu ermutigt, anders mit ihm zu sprechen. Heute sage ich ihm, wenn sein Verhalten mich verletzt. Er sagte mir dann, es täte im leid und dass er mich nicht verletzen wollte. Darauf hin habe ich vor Freude geweint, weil auf einmal so viel Nähe zwischen uns war. Meine Kinder sagten mir, ich hätte mich verändert, sei viel liebevoller und gefühlsbetonter geworden, seit ich mich mit mir selbst auseinandersetze.

Lust aufs Leben: Was unterscheidet Ess-Sucht von anderen Süchten wie zum Beispiel Alkoholismus?
Martha*: Das Schwierige ist, dass wir täglich essen müssen, um uns zu ernähren. Wir können also nie abstinent sein wie zum Beispiel bei einem Alkoholentzug. Für einen trockenen Alkoholiker reicht selbst nach Jahrzehnten ein kleiner Schluck, um rückfällig zu werden.

Lust aufs Leben: Wie setzen sich Ihre Selbsthilfegruppen zusammen?
Martha*: Bei uns gibt es alle Alters- und Berufsgruppen. Auch viele PsychologInnen und ÄrztInnen sind betroffen. Ess-Sucht ist ein vorrangig weibliches Problem, da Männer vor allem der Alkoholsucht verfallen.

Weitere Informationen und Kontakt:
Overeaters Anonymous esssucht.at


* Name von der Redaktion geändert

Weitere Beiträge zum Thema Sucht beenden lesen Sie im Laufe des Oktobers in der Lust aufs LEBEN Online-Initiative www.lustaufsleben.at/sucht-beenden

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