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Das Leben lieben trotz psychischer Erkrankungen

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Das Leben lieben trotz psychischer Erkrankungen
© Antonie Partheil©Antonie Partheil
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Autorin Kea von Garnier erkämpft sich jeden Tag aufs Neue Dinge, die für andere Menschen völlig normal sind.

Kea von Garnier hat ein Buch geschrieben, das sie selbst als junges Mädchen gebraucht hätte – ein Buch, das die Botschaft vermittelt: auch wenn du psychische Erkrankungen hast, kannst du das Leben lieben. Im Interview spricht sie über die Liebe zum kreativen Schreiben, dass die ständige Forderung nach eiserner Stärke uns das Genick bricht und darüber, dass Menschen immer komplexer sind, als ihre Diagnosen.

Lust aufs Leben: Wie geht es dir im Moment?
Kea von Garnier: Ich bin zufrieden. Nach drei Jahren akuter Krise fühle ich mich seit einem halben Jahr deutlich besser. Es geht jetzt nicht mehr darum, einfach nur durchzuhalten. Jetzt darf ich mir auch wieder Fragen stellen, wie: »Was macht mir Spaß? Wo möchte ich mit meinem Leben hin? Worauf habe ich Lust?« Dafür bin ich sehr dankbar.

Lust aufs Leben: Warum hast du dich entschlossen ein Buch über deine Geschichte zu schreiben? Wen möchtest du damit erreichen?
Kea von Garnier: Ich habe ein Buch geschrieben, das ich selbst als junges Mädchen gebraucht hätte – ein Buch, das mir die Botschaft vermittelt: auch wenn du psychische Erkrankungen hast, kannst du das Leben lieben und viele tolle und erinnernswerte Momente erleben. Ich teile außerdem Behandlungsmethoden und Einsichten, die mir auf meinem Weg geholfen haben und hoffe, dass es anderen Betroffenen Mut machen kann: mit seelischem Handicap dauert es vielleicht ein bisschen länger, aber es ist möglich, den einen oder anderen Traum trotzdem zu verwirklichen.

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k.A © Kristin Bethge

Lust aufs Leben: Was bedeutet das Schreiben für dich?
Kea von Garnier: Unendlich viel. Es ist Medizin und Treibstoff, es ist ein Quell der Freude. Das Schreiben der anderen schenkt mir Motivation, eröffnet neue Perspektiven, lässt mich mich in anderen wiedererkennen und schafft so ein Gefühl von Verbindung. Mein eigenes Schreiben beschert mir Momente kompletten Flows – ich gehe im Moment völlig auf. Und wenn es gelingt, die inneren Bilder gut aufs Papier zu bringen, dann belohnt mich das Schreiben mit einem Gefühl im Bauch wie jenes, das man als kleines Kind am Vorabend vorm Geburtstag hatte.

Lust aufs Leben: Du bist freiberufliche Grafikerin und Texterin und studierst. Wie schaffst du es nebenbei auf deine Gesundheit zu achten und Balance zu finden?
Kea von Garnier: Die Balance zu finden zwischen Aktivität und Ruhe ist definitiv noch eine meiner großen Baustellen. Ich arbeite daran, aber ich ahne auch, woher es kommt: Lange Jahre meines Lebens musste ich auf vieles verzichten, das zu einem gesunden Leben dazugehört. An guten Tagen möchte ich deshalb immer möglichst viel erleben, genießen, die neu gewonnene Freiheit auskosten. Da habe ich noch einiges aufzuholen. Gut auf mich Acht zu geben und mir Ruhepausen zu gönnen ist deshalb etwas, das ich immer wieder üben muss.

Lust aufs Leben: Du hast im letzten Jahr eine Pause von Beziehungen und Dating gemacht. Wie kam es dazu und was hast du dabei gelernt?
Kea von Garnier: Ich habe schon vor längerer Zeit erkannt, dass ich von meinen Beziehungen und von der Bestätigung durch meine Partner in ungesunder Weise abhängig war. Beziehungsabhängigkeit als eine Form der Sucht ist wenig bekannt, vielleicht auch, weil wir als Gesellschaft der Paarbeziehung eine sehr hohe Bedeutung beimessen. Aber wenn Menschen ihren Selbstwert komplett an das Vorhandensein einer Partnerschaft knüpfen und um keinen Preis allein sein wollen, führt das zu viel emotionalem Leid.

Erst mit über 30 war ich bereit, einen »kalten Entzug« zu machen und mich dem Alleinsein zu stellen. Ein Jahr lang habe ich mich ganz bewusst nicht verabredet, keine neuen Männer getroffen, keine Dating Apps auf dem Handy gehabt. Ich wollte mich nicht mehr an romantischen Zukunftsfantasien wärmen, um eine innere Leere zu füllen. Dieses Jahr gehört rückblickend zu den wichtigsten in meinem Leben. Die Erfahrung, dass ich mich selbst halten und Kraft aus meinem eigenen Leben schöpfen kann, ist für mich ein wichtiger Meilenstein gewesen. Es geht übrigens bei der Genesung von Beziehungsabhängigkeit nicht um Askese – das Ziel ist nicht, für immer Single zu sein, sondern Beziehungen zu pflegen, die gesund sind und in der sich die PartnerInnen auf Augenhöhe begegnen.

Lust aufs Leben: Welche Diagnosen hast du im Laufe deines Lebens schon bekommen?
Kea von Garnier: Angststörung mit Panikattacken, rezidivierende Depressionen, Anorexie, Borderline, Hypochondrische Störung, DPDR, Somatoforme autonome Funktionsstörung.

Lust aufs Leben: Was ist DPDR?
Kea von Garnier: DPDR ist die Abkürzung für Depersonalisations- und Derealisationssyndrom. Es ist ein Zustand, in dem sich die Wahrnehmung des eigenen Selbst und/oder die der Umwelt verändert. Bei der Depersonalisation fühlt man sich fremd, wie neben sich stehend, erlebt die eigene Stimme und Handlungen als nicht zu sich gehörig, wie ferngesteuert. Die Derealisation bezieht sich auf die Umgebung, die Dinge können zu groß oder zu klein erscheinen, wirken wie in 2D oder wie in einem Film. Alles wirkt „unwirklich“ und anders, als die Wahrnehmung, die man kannte, bevor dieser Zustand begonnen hat. Die Realitätsprüfung ist aber intakt, es ist keine psychotische Störung oder Schizophrenie. Viele Betroffene haben furchtbare Angst, verrückt zu werden und sich nie wieder normal fühlen zu können – hier kann ich beruhigen. Beides tritt nicht ein. DPDR ist maximal unangenehm, aber kein Vorbote davon, den Verstand zu verlieren. Sie ist ein Schutzmechanismus der Seele, mit dem sie sich vor schmerzhaften und verdrängten Gefühlen schützt.

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k.A © Antonie Partheil

Lust aufs Leben: Wie wichtig ist es für dich, überhaupt Diagnosen zu haben?
Kea von Garnier: Diagnosen sind in meinen Augen ein von Menschen gemachtes Behelfssystem – sie dienen dazu, die besten Therapiemöglichkeiten für die vorliegende Erkrankung zu finden. Aber Menschen sind immer komplexer als ihre Diagnosen. Deshalb sind sie für mich eher Wegweiser, als feste Eigenschaften, die ich mir ans Revers hefte und über die ich mich definiere.

Lust aufs Leben: Du sagst, dass du dich von einem beschwerdefreien Leben und »Heilung« verabschiedet hast. Hat dieser Gedanke vielleicht auch geholfen, liebevoller mit dir selbst umzugehen und deine psychischen Erkrankungen als Teil von dir und nicht als deinen Gegner zu sehen?
Kea von Garnier: Das stimmt so nicht – ich sage schon, dass ich Wunder immer für möglich halte und Heilung wäre ein solches. Ich halte mir diese Tür immer offen, durch sie fällt Licht herein. Für das Heute ist es mir aber manchmal dienlicher, eine Haltung einzunehmen, in der ich versöhnlich damit sein kann, dass mir meine Ängste, die DPDR oder die Depressionen immer mal wieder begegnen. Das ist vor allem deshalb so hilfreich, weil es den Druck reduziert – wenn ich nach einer stabilen Phase plötzlich wieder mit dieser inneren Taubheit und Niedergeschlagenheit oder einer Panikattacke aufwache, dann muss ich das nicht als persönliches Versagen, unheilvollen Rückschritt oder Einstieg in ein neues, langes Tief betrachten. Ich kann es mir »erlauben«, mich zu fühlen, wie ich mich fühle, muss nicht so verbissen dagegen kämpfen, weil es nicht in mein Bild von Heilung passt. Genesung verläuft eben nicht linear, sie ist ein Prozess. Sich das zu vergegenwärtigen, nimmt mancher schlechten Phase von Anfang an etwas von ihrer Wucht. Letzten Endes wollen auch unsere Symptome doch nur eins – von uns gesehen und validiert werden. Das fällt leichter, wenn es kein Riesendrama ist, dass sie mal wieder vorbeischauen.

Lust aufs Leben: Gibt es eine Technik, die dir in schwierigen Situationen besonders hilft?
Kea von Garnier: In Angstsituationen: Atemübungen, zum Beispiel die Vier-Sieben-Acht-Atmung (bis vier zählen und einatmen, den Atem für sieben Sekunden anhalten, dann acht Sekunden lang Ausatmen). Gegen das Morgentief einer depressiven Phase hilft mir das Ritual einer Morgenrunde: ich zwinge mich, das Haus für einen Spaziergang zu verlassen. Die Wolken zu sehen, den Wind auf der Haut zu spüren, anderen Menschen zu begegnen: das kann hilfreich sein, um wieder Verbindung mit dem Leben aufzunehmen. Erleichterung verschaffen mir außerdem Singen, Tanzen und Beten.

Lust aufs Leben: Welchen Rat kannst du Menschen mit psychischen Erkrankungen mitgeben?
Kea von Garnier: Ihr seid nicht weniger wertvoll, nur weil ihr psychisch erkrankt seid. Sprecht darüber, wie es euch geht und sucht euch professionelle Unterstützung – Hilfe anzunehmen ist kein Zeichen von Versagen.
Und: In schwierigen Phasen nie an die ganze Zukunft auf einmal denken – das überfordert. Immer nur den heutigen Tag betrachten und sich fragen: Was kann ich heute für mich tun, das mir gut tut, auch wenn die Ängste und Zweifel da sind?

Lust aufs Leben: Was konnte dir bezüglich deiner mentalen Gesundheit bis jetzt am meisten helfen?
Kea von Garnier: Ich persönlich habe vom KEN Programm am meisten profitiert – ich glaube daran, dass es uns, wenn wir einen freien Fluss unserer Gefühle zulassen können, möglich ist, ein hohes Maß an Lebendigkeit zu erreichen. Lebendigkeit – nicht andauernde Glückseligkeit! Zuzulassen, dass es zum Menschsein dazugehört, sich abwechselnd gut und weniger gut zu fühlen und all diese Schwingungen mitgehen zu können – ich denke, darin liegt der Schlüssel zu einem zufriedenen Leben.

Lust aufs Leben: Was würdest du dir für die Aufklärung rund um psychische Gesundheit wünschen? Wo würdest du dir mehr Verständnis in der Gesellschaft wünschen?
Kea von Garnier: Meine Zukunftsvision ist eine Gesellschaft, in der es genauso normal ist, im Büro zu sagen, dass man in eine Klinik gegangen ist, um seine Depressionen behandeln zu lassen, wie man davon erzählt, dass man sich den Knöchel gebrochen hat. Bis es soweit ist, ist es noch ein langer Weg. Wir müssen nicht nur offener über psychische Erkrankungen sprechen. Wir müssen auch an unseren gesellschaftlichen Werten rütteln: Psychische Erkrankungen gelten vielerorts immer noch als Schwäche. Aber was ist so schlimm daran, auch mal keine Kraft zu haben und Hilfe zu brauchen? Diese ständige Forderung nach eiserner Stärke und immerwährender Leistungsfähigkeit ist es, die uns das Genick bricht. Niemand ist immer stark. Und niemand sollte immer stark sein müssen.

Buchtipp:

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Buchtipp:
k.A © Eden Books

"Die Vögel singen auch bei Regen – Das Leben lieben trotz psychischer Erkrankungen", Kea von Garnier, Eden Books, € 15,--

Weitere Beiträge zum Thema Sucht beenden lesen Sie im Laufe des Oktobers in der Lust aufs LEBEN Online-Initiative www.lustaufsleben.at/sucht-beenden

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