Sucht als moderne Volkskrankheit
Der Gerichtspsychiater und Suchtexperte Reinhard Haller erklärt in seinem Buch, wie man Sucht erkennt und wie sie entsteht.
Süchtig sein heißt, niemals genug zu kriegen, nie zufrieden zu sein und für wenige Momente des Wohlbefindens den Preis zunehmender Unfreiheit zu bezahlen. "Meist ist man sich der eigenen, sich unbemerkt entwickelnden Süchte erst gar nicht bewusst", schreibt Reinhard Haller, Gerichtspsychiater und ehemaliger Leiter des Suchtkrankenhauses Maria Ebene.
Süchtig sein kann man nach vielem: zum Beispiel nach Fernsehen, Einkaufen, Glücksspiel, Alkohol, Drogen, Essen, Abnehmen, Sport Arbeit, Computer, Tabletten, Putzen, Sex und dem Internet. Zudem gibt es laut Haller Charaktersüchte wie Geltungs-, Kritik-, Streit-, Ich-, Selbst- oder Habsucht. Davon spricht man, wenn der Charakterzug in beherrschender Weise die Persönlichkeit dominiert.
90 Prozent sind süchtig
Der Psychiater beschreibt die Fakten, die ans Tageslicht kommen, wenn wir das Thema Sucht näher beleuchten: 90 Prozent der Menschen sollen in irgendeiner Weise süchtig sein, und mit 500 Milliarden US-Dollar wird pro Jahr mehr Geld in Suchtmittel als in die Ernährung der Menschheit ausgegeben. Pro Sekunde werden weltweit 30.000 Pornoclips und rund 50 Gigabyte Daten mit pornografischen Inhalten angesehen. Bereits 20 Prozent der einjährigen Kinder und 90 Prozent der Dreijährigen sitzen regelmäßig vor dem Fernseher. In den letzten Jahrzehnten hat sich das Suchtpotenzial deutlich gesteigert: So ist die Anzahl der therapiebedürftigen AlkoholikerInnen seit 1950 um das Zwölffache gestiegen, und der weltweite Umsatz mit dem Online-Glücksspiel liege bereits bei einer halben Billion Dollar.
Neben all diesen Tatsachen weist der Arzt darauf hin, dass nahezu jedes Verhalten süchtig machen kann und dass die Selbstreflexion des eigenen Verhaltens ein entscheidender Faktor ist, ob man in der Lage ist, ein üübertsiegertes Maß mit seiner Eigendynamik zu erkennen.
Der Kreislauf der Sucht
Süchtiges Verhalten stellt laut Haller aber auch ein uraltes, zutiefst menschliches Phänomen dar – der Wunsch nach vorübergehender Flucht aus der Realität ist so alt wie die Menschheit selbst. Schließlich hat jeder Mensch das Bedürfnis, sich abzulenken, zu entspannen, sich zu beruhigen – und dabei manche eben auch, in eine Scheinwelt zu entrücken.
Diese anfängliche süße Verführung endet später in Gefangenschaft. Sowohl Körper als auch Psyche entwickeln über die Zeit eine Toleranz gegenüber der ursprünglichen Dosis, was zur Notwendigkeit einer Dosis-Steigerung führt. Wird diese nicht herbeigeführt, treten quälende Entzugserscheinungen in immer stärkerem Ausmaß auf. "Das Wesen der Sucht ist die Dominanz, die irgendein Gefühlszustand oder ein Verhalten in unserem Leben bekommt", schreibt Haller, "Alles andere scheint unwichtig, Substanzen und Eigenschaften, die wir normalerweise beherrschen, entgleiten der Kontrolle und werden lebensbestimmend."
Irgendwann ist man nicht mehr agierend, sondern reagierend: "Man ist nicht mehr Herr oder Frau im eigenen Haus", so Haller. Ab diesem Punkt habe die süchtige Person das höchste Gut des Menschen verloren: die Freiheit. Der Süchtige büßt nämlich mit dem Kontrollverlust die Fähigkeit ein, seinen Konsum oder sein Verhalten willentlich zu lenken und aus eigener Kraft zu beenden. Unterstützt wird dieser Prozess maßgeblich durch eine Verstärkung der Botenstoffe im Belohnungssystem des Gehirns, sobald der Konsum der Substanz einsetzt oder das Verhalten ausgeübt wird.
Sucht nüchtern betrachten
Reinhard Haller rät dazu, sein eigenes Suchtverhalten am Spektrum kritisch zu reflektieren. Wer sich von Sucht nachhaltig verabschieden will, braucht zunächst einen – im wahrsten Sinn des Wortes – nüchternen Blick auf die Tatsachen. "Als Hauptproblem erweist sich das lange fehlende Bewusstsein über das Suchtproblem", schreibt Haller. Den wesentlichen Teil der Bewältungsaufgaben muss der Betroffene selbst leisten:
1. Erkennen des Problems
2. Nüchterne Beurteilung der Situation, Erstellen einer Kosten-Nutzen-Bilanz
3. Einschätzung des Gewöhnungs- und Abhängigkeitsgrades
4. Bewältigung der Abwehrmechanismen
5. Auseinandersetzung mit der Bedeutung der Droge und des süchtigen Verhaltens
6. Entschluss zu suchtfreiem Verhalten
7. Abschied von der süchtigmachenden Substanz beziehungsweise dem Suchtverhalten
8. Bewältigung des suchtfreien Lebens, Entwicklung von Coping-Mechanismen
9. Ersatz schaffen, Ausfüllen des Vakuums
10. Selbstanerkennung und Selbstlob
Entscheidend ist, das derzeitige Verhalten weder zu verharmlosen noch zu verdrängen. Wer ehrlich zu sich selbst ist, hat gute Chancen, das eigentliche Problem hinter der Sucht zu lösen und ja zu sich selbst und zur Freiheit zu sagen.

Buchempfehlung:
"Nie mehr süchtig sein – Leben in Balance", Reinhard Haller, Ecowin, € 19,--
Reinhard Haller erklärt, wie Sucht entsteht, woran man sie erkennt und wie man sie überwinden kann - der Bestseller in einer aktualisierten und überarbeiteten Neuauflage.
Weitere Beiträge zum Thema Sucht beenden lesen Sie im Laufe des Oktobers in der Lust aufs LEBEN Online-Initiative www.lustaufsleben.at/sucht-beenden