Pro & Contra: Schadet Kindern frühe Fremdbetreuung?

Die Eingewöhnung in den Kindergarten ist für Kinder eine große Umstellung.

Die Eingewöhnung in den Kindergarten ist für Kinder eine große Umstellung.

Zwei Experten nehmen Stellung.

Nein!

Die Betreuungsbedingungen in den ersten Lebensjahren sind besonders wichtig, da sie die Fundamente für die spätere Entwicklung legen – das steht außer Frage. In dieser Zeit formen sich die Meilensteine in der sozialen, geistigen und sprachlichen Entwicklung. Es entwickeln sich die Mutter-Kind-Bindung und weitere Beziehungen, die das Kind künftig für ein angepasstes Sozialverhalten und seine emotionale Regulation braucht.

Tatsächlich haben Entwicklungs- und Verhaltensstörungen in den letzten Jahren signifikant zugenommen, die als Aufmerksamkeits-, Lern- und Aktivitätsstörungen, emotionale Regulationsstörungen und Aggression sowie sprachliche und kognitive Defizite vorrangig nach dem Schuleintritt registriert werden. Es liegt nahe, die Ursachen dieser „neuen Kinderkrankheiten“ schon in der veränderten Frühsozialisation zu suchen. Dabei darf aber nicht außer Acht gelassen werden, dass sich auch die Bedingungen für die Familie geändert haben.
Man weiß heute, dass eine lange mütterliche Betreuung nicht mit Notwendigkeit eine bestmögliche Entwicklung für das Kind garantiert. Vor allem isolierte Mutter-Kind-Situationen wirken sich eher negativ aus. Mütter, die sich unterstützt fühlen und auch unterstützt werden, können ihre eigene Fürsorglichkeit besser entfalten und sich besser auf die Reaktionsmuster des Babys einstellen, als wenn sie mit der Betreuung des Kindes gänzlich allein gelassen werden.

Es ist deshalb wichtig, Bindung, Bildung und Betreuung schon in der frühen Kindheit entwicklungsangemessen aufeinander zu beziehen und zu gestalten. Wer sein Kind früh in einer Kinderkrippe, im Kindergarten oder bei Tageseltern betreuen lässt, sollte auf einen kleinen Schlüssel von Pädagogen und zu betreuenden Kindern und auf ein liebevolles Umfeld schauen. Aber schlechtes Gewissen braucht er keines zu haben!*

Die Expertin:

Univ.-Prof. DDr. Lieselotte Ahnert, Entwicklungspsychologin. Buch: „Wieviel Mutter braucht ein Kind?“, Springer-Verlag, € 15,41. Web: www.lieselotte-ahnert.de

Univ.-Prof. DDr. Lieselotte Ahnert

Univ.-Prof. DDr. Lieselotte Ahnert

Ja!

Kinder sollten erst in eine Kinderbetreuungsstätte, wenn ihre Selbstberuhigung ausreichend entwickelt ist. Die ventralen Vaguskerne sind mit den anderen Kiemenbogennerven vernetzt, sodass in Zusammenarbeit dieser Nerven Menschen in der Lage sind, über Mimik und Gestik, Stimme und Stimmmelodie sowie Berührung in Kontakt mit anderen zu treten und sich dadurch selbst zu beruhigen („Connect and calm“).

Die Aktivierung dieser ventralen Vaguskerne setzt voraus, dass der Organismus die Umgebung als ausreichend sicher bewertet. Das ist die Grundlage für das Entwickeln von Anpassungs- und Handlungsfähigkeit. Damit sich das („Connect and calm“-)System entwickeln kann, muss das Kind lernen, Mimik, Gestik und Sprachmelodie richtig zu deuten.

Kinder, die das Glück haben, mindestens in den ersten drei Lebensjahren in der vertrauten Umgebung der eigenen Familie aufzuwachsen, gehen daraus gestärkt hervor. Das ventrale parasympathische System mit den schnell leitenden Nervenfasern, das den Stress reguliert, entwickelt sich beim Kleinkind nur in einer beruhigenden Umgebung optimal. Je stärker eine Situation als unsicher und nicht vertrauenerweckend wahrgenommen wird, desto stärker aktiviert sich im kindlichen Nervensystem der Sympathikus („fight or flight“) und sorgt für Stress. Kleine Kinder nehmen den Herzschlag und den Rhythmus der eigenen Mutter wahr und kommen so zur Selbstberuhigung. Schon beim Vater klappt das nicht mehr in gleichem Maße, allerdings immer noch besser als bei jeder Fremdbetreuung. Keine Erzieherin in einer Krippe kann diese Mutter-Kind-Beziehung simulieren oder gar ersetzen. Das Kind braucht nicht nur die sichere Umgebung zur Entwicklung, sondern auch ausreichend Zeit zur Reifung. Diese Betrachtung ist frei von wirtschaftlichen Zwängen.

Der Experte:

Univ.-Lekt. Ulrich Conrady, Neurocoach, Diplom-Mentaltrainer. Buch: „Eltern, entspannt euch!“, Ecowin Verlag, um € 20,–. Web: www.avwf.de

Univ.-Lekt. Ulrich Conrady

Univ.-Lekt. Ulrich Conrady

*Einige Textstellen stammen aus dem Buch „Wieviel Mutter braucht ein Kind?“

In jeder Ausgabe von Lust aufs LEBEN diskutieren Experten über ein kontroverses Thema.