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"Psychische Erkrankungen können jeden betreffen"

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"Psychische Erkrankungen können jeden betreffen"
© iStock/shironosov©iStock/shironosov
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Dr. Hemma Swoboda, Fachärztin für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin und neue Obfrau von pro mente Wien schildert im Interview, wie wir jetzt mit Einsamkeit und Menschen mit psychischen Erkrankungen umgehen können.

Pro mente ist ein Verein, der sich für Menschen mit psychischen Erkrankungen einsetzt und Menschen in seelischen Krisen unterstützt. Das Angebot umfasst unter anderem Arbeitsprojekte, Wohnprojekte, Freizeitangebote sowie psychosoziale Begleitung und Hilfe zur Selbsthilfe. Dr. Hemma Swoboda, Fachärztin für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin sowie Psychotherapeutin, wurde zur neuen Obfrau von pro mente Wien gewählt. Im Interview spricht sie darüber, was Einsamkeit jetzt für Menschen mit psychischen Erkrankungen bedeutet und wir dazu beitragen können, dass Depressionen, Angststörungen und weitere normale Erkrankungen sind, für die sich niemand schämen muss. Wichtig sei gerade jetzt, psychosoziale Angebote zu verstärken, um gezielt dieser Isolation und Vereinsamung entgegenzuwirken.

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Dr. Hemma Swoboda, Obfrau von pro mente Wien © Sandra Schartel

Lust aufs LEBEN: Wie werden Sie sich als neue Obfrau von pro mente Wien gegen die Einsamkeit engagieren?
Dr. Hemma Swoboda: Pro mente Wien hat bereits sehr viele psychosoziale Angebote. Unser Anliegen ist es, Menschen abzuholen und ihnen zu helfen, an der Gesellschaft teilzuhaben. Die Hemmschwelle, sich Hilfe zu suchen, wenn man unter psychischen Schwierigkeiten leidet, ist immer noch hoch. Deshalb sollten die Angebote einerseits möglichst vielen Menschen bekannt gemacht werden und andererseits leicht erreichbar sein.

Lust aufs LEBEN: Wie sieht das Angebot im Detail aus?
Dr. Hemma Swoboda: Neben Wohn-, Arbeits– und Freizeitprojekten möchte ich in der derzeitigen Situation der Vereinsamung unsere Sozialbegleitung besonders in den Vordergrund stellen. Dabei geht es darum, Menschen in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld ein langfristiges Beziehungsangebot zu machen. Hier leisten gut ausgebildete ehrenamtliche Mitarbeiter wertvolle Arbeit an der Gesellschaft und können auch selbst viel profitieren. Ganz wichtig ist mir auch, im Sinne einer Regionalisierung durch „Grätzlprojekte“ psychosoziale Treffpunkte in möglichst vielen Bezirken zu schaffen, z.B. in Form einer Caféhausstruktur mit Minimarkt. Auch möchten wir die Wohnprojekte ausweiten und der noch immer weitverbreiteten Stigmatisierung psychischer Erkrankungen entgegentreten.

Lust aufs LEBEN: Warum leiden manche Menschen jetzt mehr und manche weniger an Einsamkeit?
Dr. Hemma Swoboda: Durch die Pandemie und die Maßnahmen der Regierung sind wir jetzt alle isoliert. Das bedeutet aber nicht, dass sich jeder einsam fühlt. Einsamkeit ist ein Gefühl, das als Folge von Isolation entstehen kann. Unter diesem Gefühl leiden Menschen unterschiedlich. Manche sind jetzt gar nicht besonders durch Einsamkeit beeinträchtigt und kommen gut zurecht. Ob Menschen dazu neigen, durch die Pandemie verstärkt psychische Erkrankungen wie Ängste und Depressionen zu entwickeln, hängt sehr stark von ihrer Lebenssituation ab. Erste Studien seit dem ersten Lockdown zeigen, dass Menschen, die schon vorher in schwierigen Lebenssituationen gelebt haben wie zum Beispiel Alleinerziehende, die mit ihren Kindern in einer beengten Wohnsituation leben und neben dem Homeoffice für alles alleine zuständig sind, tendenziell stärker gefährdet und betroffen sind.

Lust aufs LEBEN: Inwiefern kann Einsamkeit ein Teufelskreis werden?
Dr. Hemma Swoboda: Einsamkeit ist, ebenso wie psychische Erkrankungen, Arbeitslosigkeit, Übergewicht und Suchtkrankheiten oft mit Scham besetzt. Hier neigen viele Menschen auch schneller dazu, den Betroffenen selbst die Schuld dafür zu geben, was noch mehr zum Rückzug führt. Vor Corona galt, wenn man einsam ist, hat man etwas falsch gemacht. Seit der Coronapandemie haben wir alle unmittelbar erfahren, welche nachteiligen Folgen Isolation und Vereinsamung für die Psyche haben kann. Jetzt sind alle in einem Boot und versuchen gemeinsam, die Situation auszuhalten. Die Pandemie zeigt uns, dass Menschen bei Isolation schnell dazu neigen, sich einsam zu fühlen, und die Tendenz, darauf mit psychischen Problemen zu reagieren, ist allzu menschlich.

Lust aufs LEBEN: Wie geht es jetzt Menschen mit Einsamkeit, die schon vorher psychische Erkrankungen hatten?
Dr. Hemma Swoboda: Manche Menschen mit Angststörungen sagen, dass es gut ist, dass sie jetzt nicht mehr hinaus gehen müssen. Für sie ist der Alltag nicht mehr so bedrohlich, weil sie sich nicht mehr mit ihren Ängsten konfrontieren müssen. Für die Therapie ist das allerdings nicht so vorteilhaft, da sich die Angst dadurch verstärkt. Bei der Angsttherapie geht es ja darum, sich ein Stück weit seiner Angst zu stellen und sich mit der Angst zu konfrontieren. Angstpatienten sind jetzt etwas entlastet, allerdings kommen oft neue Ängste dazu wie zum Beispiel Angst, den Job zu verlieren.

Lust aufs LEBEN: Für Menschen mit Depressionen ist Einsamkeit ja ein sehr großes Thema.
Dr. Hemma Swoboda: Ja, denn sie sind sehr stark auf Sozialkontakte angewiesen. Wir Menschen sind zwar alle soziale Wesen, aber Menschen mit Depressionen spüren eine starke und andauernde Leere, sie fühlen sich wenig lebendig und brauchen viel Struktur und Kontakt von außen, zum Beispiel durch Menschen, die sie motivieren. Wenn ihnen das wegbricht, ist das für sie eine große Einschränkung. Depressive neigen dann dazu, sich noch mehr zurückzuziehen, sich noch weniger zu pflegen und aus dem Bett zu kommen. Auch haben sie viel häufiger negativen Gedankenschleifen. Im Gegensatz zu gesunden Menschen fehlt ihnen die Hoffnung und Zuversicht, dass es besser wird. Es wird Impfung und Lockerungen geben, doch das können Depressive schwerer erkennen.
Ein Riesenthema ist die Einsamkeit jetzt für suchtkranke Menschen. Dadurch, dass Suchtkranke auch ein Thema mit innerer Leere haben, steigt dieses Gefühl jetzt, weil ja weniger von außen kommt. Zu Hause ist die Gefahr größer, seinen Süchten nachzugeben.

Lust aufs LEBEN: Viele weichen jetzt auf Online-Kontakte in ihren Beziehungen aus. Es wird immer wieder gesagt, wie hilfreich diese Möglichkeit jetzt ist. Wie sehen Sie diese Entwicklung aus der Praxis mit Patienten?
Dr. Hemma Swoboda: Skypekontakte können für eine gewisse Zeit zwar persönliche Kontakte ersetzen, sie können aber nie eine Dauerlösung sein. Generell hat sich schon gezeigt, dass die Online-Medien ein ganz wichtiges, unterstützendes Tool für die Zukunft sein werden, auch in der Therapie. Anfangs hatten viele Therapeuten Vorbehalte, doch es zeigte sich seit den Lockdowns, dass ein digitaler Kontakt besser ist als gar kein Kontakt. Besonders für Depressive sind die Online-Sitzungen jetzt ein ganz großer Hoffnungsschimmer. Die Kontakte zum Therapeuten finden weiterhin kontinuierlich statt, immer am gleichen Tag und um die gleiche Uhrzeit.

Lust aufs LEBEN: Was können Betroffene jetzt tun?
Dr. Hemma Swoboda: Wichtig ist, weiterhin Kontakt mit dem Arzt und/oder dem Therapeuten zu halten und eventuelle Medikamente weiter zu nehmen bzw. abklären lassen, ob es sinnvoll ist, Medikamente zu nehmen. Antidepressiva können sowohl für den Körper als auch für die Psyche sehr hilfreich sein. Sie sind sehr gut verträglich und machen nicht abhängig. Man sollte keine Scham haben, den Hausarzt oder einen Psychiater darauf anzusprechen.

Lust aufs LEBEN: Werden körperliche Symptome bei Depressionen häufig unterschätzt oder falsch interpretiert?
Dr. Hemma Swoboda: Ja, denn hinter körperlichen Beschwerden wie Schlafstörungen oder Magenproblemen, Appetitlosigkeit oder Konzentrationsbeschwerden können auch Depressionen stecken. Wenn man unterstützend für Stimmung, Konzentration oder Schlaf Medikamente nimmt, kann man dazu beitragen, dass man sich deutlich besser fühlt und dann kann auch seinen Alltag besser bewältigen. Leider sind Psychopharmaka ebenso wie psychische Krankheiten selbst zu Unrecht oft noch mit vielen Vorurteilen besetzt.

Lust aufs LEBEN: Was hilft noch akut bei Depressionen?
Dr. Hemma Swoboda: Auf jeden Fall Kontakt mit einem Profi aufnehmen, einen festen Tagesrhythmus organisieren und versuchen, um die selbe Zeit aufzustehen und schlafen zu gehen sowie regelmäßig zu essen. Wichtig ist auch, sich trotzdem anzuziehen und nicht den ganzen Tag im Pyjama zu verbringen. Auch Körperpflege hilft. Auch, wenn man einmal täglich hinausgeht und ein paar Schritte geht, fühlt man sich besser. Zudem tut es gut, jede Form von Kontakten zu pflegen, und wenn es nur die Nachbarn sind oder man in den Supermarkt geht und „Hallo“ zur Kassiererin sagt. Über den Tag hinweg lassen sich so mehrere Bausteine einbauen, die Struktur geben und positiv aktivieren. Ich halte es auch für wichtig, die negativen Nachrichten über die Pandemie nur sehr gering dosiert zu konsumieren. Viel wichtiger sind kleine, positive Ereignisse, die einen herausreißen anstatt sich in Schreckensszenarien hineinziehen zu lassen.

Lust aufs LEBEN: Welche Rolle spielen Online-Tools und die Sozialen Medien?
Dr. Hemma Swoboda: Telefon und Internet können bei sozialen Kontakten helfen – aber Social Media nur im beschränkten Ausmaß. Wenn man Stunden in sozialen Netzwerken verbringt, steigt die Gefahr, sich am tollen Leben der anderen leid zu sehen, was dazu führen kann, dass man sich selbst und sein Leben noch negativer beurteilt und sich nach dem Konsum sozialer Medien schlechter fühlt als vorher.

Dating Apps sind in Zeiten der sozialen Isolation auch nur sehr begrenzt hilfreich. Ihr Ziel ist, den NutzerInnen in kurzer Zeit und wiederholt multiple scheinbar verfügbare PartnerInnen vorzugaukeln, wobei Enttäuschungen vorprogrammiert sind, da diese Art von Kontaktanbahnung niemals einen analogen Kennenlernkontakt mit allen verfügbaren Sinnen ersetzen kann.

In einem gewissen Ausmaß können Onlinekontakte z.B. via Skype sinnvoll sein, um mit Familienangehörigen in Kontakt zu bleiben, wenn ein physischer Kontakt nicht möglich ist. Das funktioniert aber nur, wenn man den anderen schon gut kennt und quasi bereits ein inneres Bild vom Gegenüber hat und damit auf emotionale Vorerfahrungen zurückgreifen kann. Für ältere Familienangehörige, die ja oft nicht so onlineaffin sind, kann allerdings der telefonische Kontakt – möglichst immer zur selben Zeit, damit eine Verlässlichkeit gegeben ist – der bessere Weg sein, in Beziehung zu bleiben.

Lust aufs LEBEN: Was können gesunde Menschen tun, um Betroffene zu unterstützen und das Stigma ein wenig mehr zu brechen?
Dr. Hemma Swoboda: Als Gesellschaft ist es wichtig, psychische Erkrankungen immer wieder zum Thema zu machen. Sie sind eine Krankheit wie jede andere auch und sie können wie etwa auch ein Beinbruch jeden Menschen betreffen.

Spätestens seit der Coronakrise merken wir alle, dass psychische Krankheiten wie Depressionen und Angst auf einem Kontinuum sind. Jetzt ist es kalt und dunkel – haben wir da nicht alle weniger Energie und empfinden immer wieder auch grenzwertige Depressionssymptome? Wir leben dann auf einem Kontinuum zwischen gesund und krank und niemand muss sich dafür genieren, wenn er über die Grenze kommt und Hilfe braucht.

Für alle Menschen ist es wichtig, nicht wegzuschauen, wenn sie das Gefühl haben, dass es einem anderen Menschen nicht gut geht. Falsch machen kann man wie bei der Reanimation nie etwas – außer, man macht nichts! So kann man zum Beispiel sagen: „Ich habe das Gefühl, es geht dir nicht so gut, kann ich etwas tun?“ Oft braucht es nicht viel, außer da zu sein und ein Stück mitzugehen und auszuhalten, dass man gerade nichts tun kann.

Wir als Psychiater und Psychotherapeuten merken auch, dass man von den Patienten sehr viel mitnehmen kann, weil sie auch Lebenskünstler sind. Dadurch, dass sie schwere Geschichten haben und aufgrund ihrer Biografie schon auf so viele Widerstände gestoßen sind, haben viele von ihnen einen starken Kern.

Weitere Informationen und Kontakt:

https://www.promente.wien/

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